Europa schafft Flüchtlinge

Während wir uns vor allem mit TTIP und CETA beschäftigen (und manchmal so tun, als wäre Europa der leidtragende Teil dieser Abkommen), setzt die EU in Afrika mit der Brechstange Freihandelsabkommen durch, die die Menschen noch mehr ins Elend treiben, wie ein Bericht der Wochenzeitung „Zeit“ zeigt. (Über die Economic Partnership Agreements mit afrikanischen Staaten haben wir schon mehrfach berichtet, zum Beispiel hier, hier oder hier. 

Politiker versprechen, die Fluchtursachen in den armen Ländern zu bekämpfen. Gleichzeitig versucht die EU, in Afrika ein verheerendes Freihandelsabkommen durchzusetzen.

Von Hafsat Abiola

Eigentlich hat Angela Merkel recht: Die Flüchtlinge, die in Europa ankommen, sind nicht so zahlreich, als dass dieser reiche Kontinent nicht würdevoll mit ihnen umgehen könnte. Doch die EU stellt derzeit jeden Tag ihre Unfähigkeit unter Beweis, die Situation angemessen zu bewältigen.

Die Armutsmigration treibt die europäischen Länder auseinander, sie untergräbt das Recht auf Bewegungsfreiheit und gefährdet das gesamte europäische Projekt. Auch wenn die Flüchtlinge aus kriegsgeplagten Ländern wie Syrien und Afghanistan derzeit die Schlagzeilen bestimmen, kommen die meisten Migranten nach wie vor aus Westafrika.

Viele Politiker haben zumindest erkannt, dass es keine Lösung sein kann, die Menschen zurück ins Meer zu stoßen. Stattdessen haben sie sich vorgenommen, die Ursachen dafür zu bekämpfen, dass ganze Familien verzweifelt genug sind, um ihr Leben bei einer Fahrt über das Mittelmeer aufs Spiel zu setzen.

Es fehlt der Wille

Im Falle von Syrien und Afghanistan gehen die Fluchtursachen auf militärische, strategische und entwicklungspolitische Probleme zurück. Es geht um failed states, um Terrorismus, den Westen und die Islamische Welt. In Westafrika allerdings liegen die Dinge deutlich anders. Hier könnte man die Fluchtursachen eigentlich relativ leicht beheben – wenn es denn den politischen Willen gäbe.

In diesem Moment verhandelt die Europäische Union ein Wirtschaftsabkommen mit den westafrikanischen Ländern, das unter dem Namen EPA firmiert. Und eigentlich sollte man annehmen, dass es ein gemeinsames Interesse an einer Vereinbarung gibt, die der Wirtschaft in diesen Ländern auf die Beine hilft. Schließlich ist es gerade die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit, die die afrikanischen Migranten nach Europa treibt. Wenn sie in ihren eigenen Ländern Aussicht auf eine anständige Arbeit hätten, kämen sie gar nicht erst auf die Idee, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um nach Europa zu gelangen.

Ungleichheit, Armut, Konflikte

Allein: Das Abkommen, das die EU vorschlägt, enthält nicht viel mehr als die altbekannten Konzepte, die zu nichts führen werden, außer dem immer gleichen Teufelskreis. Es verspricht kurzfristige Profite für europäische Konzerne und Beteiligungen für eine kleine afrikanische Elite. Mit den bekannten Folgen: steigende Ungleichheit in der Region, grassierende Armut, schwelende Konflikte.

Während Präsidenten und Premierminister in Brüssel vor Journalisten aus aller Welt eine Pressekonferenz nach der anderen über Europas Flüchtlingskrise abhalten, ist ein paar Straßen weiter eine nahezu unbekannte Abteilung der Europäischen Kommission damit beschäftigt, ein Freihandelsabkommen auszuhandeln, das die Probleme in dem Teil der Welt, aus dem die meisten Migranten kommen, mit einem Schlag lösen könnte. Doch die EU torpediert ihre beste Chance, dafür zu sorgen, dass die Migranten in ihren Ländern bleiben.

Abhängig von Entwicklungshilfe

Zurzeit sperren sich nur noch drei von 16 westafrikanischen Ländern gegen die Ratifizierung des Abkommens: Nigeria, Mauretanien und Niger. Die meisten der anderen Länder sind von europäischer Entwicklungshilfe abhängig und haben sich dem Druck längst gebeugt. Möglicherweise glauben sie auch, das vorliegende Abkommen sei das beste, das sie kriegen können.

Doch Nigeria vereint 78 Prozent der Wirtschaftsleistung und 180 Millionen der 330 Millionen Einwohner der Region auf sich. Und die Unruhen im Norden und äußersten Süden des Landes haben unserer Regierung deutlich gemacht, was bei diesen Verhandlungen auf dem Spiel steht. Sie kann nur ein Abkommen akzeptieren, das bessere wirtschaftliche Perspektiven für weite Teile der einheimischen Bevölkerung ermöglicht. Anders kann es in einem Land, in dem 56 Prozent der 15- bis 34-Jährigen arbeitslos oder geringfügig beschäftigt sind, nicht sein.

Vorbild Malaysia

Die Ökonomen der westafrikanischen Wirtschaftsunion ECOWAS und der Weltbank behaupten, dass Nigeria von dem EPA-Abkommen profitieren würde. Die nigerianischen Ökonomen sind zu anderen Ergebnisse gekommen: Sie sagen voraus, dass EPA unsere Märkte in eine Müllhalde für europäische Produkte verwandeln würde. Es würde nicht nur die Chancen unserer kleinen und mittelgroßen Unternehmen erheblich schmälern, die gegen die europäische Konkurrenz keine Chance hätten. Mittel- bis langfristig würden der nigerianischen Regierung auch spürbar Steuereinnahmen entgehen.

Wenn man sich vor Augen führt, dass unsere Regierung schon jetzt kaum in der Lage ist, essenzielle staatliche Aufgaben – eine grundlegende Schulbildung für alle, eine allgemeine Gesundheitsversorgung  etc. – wahrzunehmen und wir außerdem dringend Ressourcen brauchen, um unsere Justiz und Polizei zu professionalisieren, dann ist es kaum nachzuvollziehen, wie man das vorliegende Abkommen für eine gute Idee halten kann.

Manchmal braucht es den politischen Mut eines Landes, um aufzeigen, dass es einen besseren Weg gibt. Malaysia hat es in der Bankenkrise von 1997 vorgemacht: Anders als vom IWF empfohlen, hat das Land seinen Banken- und Währungssektor damals nicht liberalisiert und ist dadurch sehr viel besser aus der Krise hervorgegangen, als es ihm vorausgesagt wurde, auch sehr viel besser als seine Nachbarländer. Malaysias freche Zurückweisung der Experten aus Washington ist seitdem zu einem Lehrstück für all jene geworden, die nach ernsthaften Reformen Ausschau halten. Es ist Irrsinn, etwas immer auf die gleiche Weise zu tun und trotzdem auf andere Ergebnisse zu hoffen.

Weil das Abkommen Einstimmigkeit voraussetzt, kann es von den drei verbliebenen Ländern blockiert werden. Aber es gibt keine Garantie, dass wir ein besseres Angebot zu sehen bekommen. Dafür müsste die EU bereit sein, ihre Politik zu ändern. Einfach auf der Suche nach ein paar schnellen Euro nach Afrika zu fliegen und in Kauf zu nehmen, dass die eigenen Geschäfte zu Lasten des Kontinents gehen, ist passé. Mittlerweile sollte Europa es wahrlich besser wissen.

Exodus der Wirtschaftsflüchtlinge

Nur wer soll sich in Europa für eine neue Politik einsetzen? Wer soll dafür sorgen, dass europäische Firmen Fabriken in Westafrika bauen, damit die Menschen arbeiten und angemessene Löhne verdienen können, um die Produkte zu erwerben, die Europa verkaufen möchte? Afrikanische Migranten mögen zurzeit von den Titelseiten verschwunden sein, aber ihr Wunsch, anderswo bessere Möglichkeiten zu haben, besteht nach wie vor.

Seit Januar dieses Jahres sind weitere 50.000 Menschen aus Afrika nach Europa aufgebrochen. Jetzt sitzen sie in Internierungslagern und siechen dahin. 3.000 von ihnen sind auf der Flucht gestorben. Die Toten und die Lebenden sind eine Anklage an uns alle. Wenn Europa tatsächlich den massenhaften Exodus der Wirtschaftsflüchtlinge aufhalten will, wäre es jetzt Zeit, sich für eine andere Politik einzusetzen.

 

Zur Autorin: Hafsat Abiola-Costello ist Mitglied des Staatskabinetts in Ogun State, dem industriellen Zentrum Nigerias, wo sie sich um die Themenbereiche Handel und Investment kümmert. Sie ist außerdem eine bekannte Aktivistin für Demokratie und Frauenrechte und Beraterin des World Future Council. Sie hat Entwicklungsökonomie an der Harvard University und Internationale Entwicklung an der Tsinghua University in China studiert.

Übersetzt aus dem Englischen von Felix Stephan