Die Erklärung von Namur

Der Kampf um die Investitionsschutzabkommen CETA und TTIP hat gezeigt, dass eine Abkehr vom Neoliberalismus dringend nötig ist und dass Handelsverträge, die dem nicht Rechnung tragen, nur noch gegen den Willen der Menschen diesseits und jenseits des Atlantiks durchgesetzt werden können. Am Montag, den 5. Dezember, hat der Ministerpräsident der Wallonie, Paul Magnette, auf einer Pressekonferenz die „Erklärung von Namur“ vorgestellt, in der es um die Frage geht, wie Handelsabkommen der EU in Zukunft aussehen müssen, wenn sie menschengerecht sein sollen.

Unterzeichnet wurde die Erklärung von vierzig Wissenschaftlern, darunter Thomas Piketty (Paris) und Claus Offe (Berlin).

Hier eine Übersetzung der Erklärung, angefertigt vom Berliner Wassertisch.

namur

Die heftigen Debatten, die in Europa durch die Unterzeichnung des CETA (umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen) entstanden sind, haben gezeigt, dass die Art und Weise, wie in der EU internationale Wirtschafts- und Handelsabkommen verhandelt werden, aber auch deren Inhalt, von einem großen Teil der Öffentlichkeit zunehmend in Frage gestellt wird.

Die Vorschläge in dieser Deklaration zielen darauf ab, die legitimen Anliegen einer wachsenden Zahl von europäischen Bürgern zu erfüllen. Angespornt durch die Werte der Solidarität, der Demokratie und des Fortschritts, welche die Europäische Union ausmachen, müssen diese Vorschläge, wenn es nach den Unterzeichnern geht, zum Standard bei allen Verhandlungen von Handels- und Wirtschaftsabkommen werden, in denen die EU und ihre Mitgliedstaaten als Akteure wirken. Diese Vorschläge werden weiterentwickelt, sobald sich die Diskussionen darüber entfalten.

Dies bedeutet, dass die EU heute nicht in der Lage ist, ein ausgewogenes Abkommen mit den Vereinigten Staaten auszuhandeln angesichts der Asymmetrie zwischen den Partnern insbesondere im Hinblick auf den Grad des Ausbaus ihrer jeweiligen heimischen Märkte und der ungelösten extraterritorialen Fragen des US-Rechts.

Das bedeutet auch, dass die EU zusammen mit ihren Partnern, die bereits an Verhandlungen teilnehmen, in gutem Glauben versuchen muss, Wege zu finden, um in den bereits weit fortgeschrittenen Verhandlungen, wenn nicht sogar in den bereits unterzeichneten Abkommen, im Sinne dieser Deklaration Erfolge zu erzielen.

1. Respekt für demokratische Verfahrensweisen

Um sicherzustellen, dass europäische Wirtschafts- und Handelsabkommens-Verhandlungen den legitimen Forderungen der Zivilgesellschaft nach Transparenz und demokratischen parlamentarischen Kontrollverfahren entsprechen, gilt:

  • Die öffentlichen Analysen und die Auseinandersetzungen über die potenziellen Auswirkungen eines neuen Wirtschafts- und Handelsabkommens sollten vor der Festlegung des Verhandlungsmandats durchgeführt werden, um zu gewährleisten, dass das Abkommen zu einer nachhaltigen Entwicklung, zur Verringerung der Armut und Ungleichheit sowie zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen wird;
  • Die Verhandlungsmandate für gemischte Vereinbarungen sollten Gegenstand einer vorherigen parlamentarischen Debatte in den nationalen und europäischen Gremien sein (sowie in den regionalen Parlamenten mit gleichwertigen Befugnissen) und dabei möglichst viele Vertreter der Zivilgesellschaft mit einbeziehen;
  • Die Zwischenergebnisse der Verhandlungen sollten zu gegebener Zeit veröffentlicht und zugänglich sein, damit die Zivilgesellschaft umfassend informiert ist und eine parlamentarische Debatte vor Abschluss der Verhandlungen stattfinden kann;
  • Die „vorläufige Anwendung“ von Abkommen sollte nicht begünstigt werden, so dass die Parlamente ihre Vollmachten im Zustimmungsverfahren von gemischten Vereinbarungen behalten;

2. Einhaltung der sozioökonomischen, gesundheitlichen und umweltrechtlichen Vorschriften

Um sicherzustellen, dass die sogenannten Wirtschafts- und Handelsabkommen der „neuen Generation“ nicht die Gesetze, die das sozioökonomische, sanitäre und umweltpolitische Modell der EU und ihrer Mitgliedstaaten schützen, in irgendeiner Weise schwächen, und um sicherzustellen, dass sie zur nachhaltigen Entwicklung und zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit und zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen, gilt:

  • Die Ratifizierung der wichtigsten Instrumente zur Verteidigung der Menschenrechte, die grundlegenden ILO-Arbeitsnormen, die Empfehlungen des BEPS-Projekts (Grunderosion und Gewinnverlagerung) und das Pariser Klimaabkommen sind für die Parteien verbindlich;
  • Quantitative steuerliche und klimatische Anforderungen wie Mindeststeuersätze und nachprüfbare Ziele für die Verringerung der Treibhausgasemissionen sollten in diese Verträge einbezogen werden;
  • Öffentliche Dienstleistungen und Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, wie sie in den jeweiligen Rechtsvorschriften der Vertragsparteien festgelegt sind, sollten vom Geltungsbereich dieser Verträge ausgeschlossen werden;
  • Die „Negativlisten“-Methode für die Festlegung des Umfangs der für die Liberalisierung zu öffnenden Wirtschaftsaktivitäten sollte generell ausgeschlossen werden und die Verträge sollten systematisch Klauseln enthalten, die es den Vertragsparteien ermöglichen, das öffentliche Eigentum an einem Sektor wiederherzustellen, ohne dabei andere Bedingungen befolgen zu müssen als die, die den nationalen Rechtsvorschriften entsprechen;
  • Es sollten Stillhalteklauseln aufgenommen werden, um zu verhindern, dass die Vertragsparteien ihre sozialen, gesundheitlichen und umweltbezogenen Normen zur Förderung der Exporte und zur Anziehung von Investitionen verringern. Diese Klauseln sind mit Sanktionsmechanismen abzustimmen, und die Einhaltung der Verpflichtungen der Vertragsparteien kann auf keinen Fall einen Anspruch auf Entschädigung durch Investoren oder andere private Wirtschaftsbeteiligte begründen;
  • Es sollten faire und effektive Kooperationsmechanismen einbezogen werden, insbesondere in Bezug auf den Informationsaustausch im Bereich der Besteuerung multinationaler Unternehmen und Offshore-Gesellschaften;
  • Es sollten unabhängige und regelmäßige sozioökonomische, gesundheits- und umweltbezogene Bewertungsmechanismen dieser Verträge eingerichtet werden. Die Verträge sollten ihre Aussetzung (im Falle einer vorläufigen Anwendung) und ihre regelmäßige Überprüfung ermöglichen, um sicherzustellen, dass sie zu einer nachhaltigen Entwicklung, zur Verringerung der Armut und der Ungleichheit sowie zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen;

3. Gewährleistung der öffentlichen Interessen in Streitbeilegungsmechanismen

Um sicherzustellen, dass die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Unternehmen und Staaten oder anderen Vertragsparteien den höchsten gerichtlichen Schutz für die öffentlichen Interessen darstellt, gilt:

  • Der Rückgriff auf nationale und europäische zuständige Gerichte sollte an die erste Stelle rücken. Internationale Streitbeilegungsmechanismen sollten nur insoweit eingeführt werden, als sie bestimmte Vorteile (im Hinblick auf die einheitliche Anwendung der Verträge, die Geschwindigkeit und die Qualifikation der Richter) haben, Transparenzgarantien beinhalten sowie einen Rechtsmittelmechanismus zur Gewährleistung einheitlicher Beschlüsse haben;
  • Die höchsten Standards für internationale Streitbeilegungsmechanismen sollten insbesondere in Bezug auf die Bedingungen für die Ernennung von Richtern, ihre Entlohnung, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit während und nach der Ausübung ihres Mandats angewandt werden;
  • Die Richter sollten in vollem Umfang qualifiziert sein, um die Wirtschafts- und Handelsabkommen im Einklang mit den Regeln des Völkerrechts einschließlich der Menschen-, Arbeits- und Umweltgesetze auszulegen und anzuwenden;
  • Gleichberechtigter Zugang zu internationalen Streitbeilegungs-Mechanismen, auch durch Maßnahmen für KMU und Einzelpersonen, um die finanziellen Auswirkungen dieser Mechanismen zu verringern;

Diese Grundsätze sollten es der Europäischen Union ermöglichen, zu zeigen, dass Handel nicht privaten Interessen zum Nachteil des öffentlichen Interesses dienen muss, sondern dass er dazu beiträgt, die Menschen zusammenzubringen, um den Kampf gegen den Klimawandel und die nachhaltige Entwicklung insbesondere in den am stärksten benachteiligten Regionen zu fördern.

ErstunterzeichnerInnen:

Philippe Aghion, Collège de France

László Andor, Corvinus University of Budapest

Stefano Bartolini, European University Institute, Florence

Francois Bourguignon, EHESS/Paris School of Economics

Ha-Joon Chang, Cambridge University

Olivier Costa, CNRS/Sciences Po Bordeaux

Carlos Closa Montero, Instituto de Políticas y Bienes Públicos, Madrid

Paul Craig, University of Oxford

Marise Cremona, European University Institute, Florence

Jean-Miche De Waele, Université Libre de Bruxelles

Sebastian Dullien, University of Applied Sciences HTW Berlin

Jean-Marc Ferry, Université de Nantes

Jean-Paul Fitoussi, Sciences-po, Paris et LUISS, Rome

Ilene Grabel, University of Denver

Ulrike Guérot, European School of Governance, Berlin

Virginie Guiraudon, CNRS/Sciences-Po Paris

Joseph Jupille, University of Colorado Boulder

Nicolas Levrat, Université de Genève

Paul Magnette, Université Libre de Bruxelles

Raffaele Marchetti, LUISS, Rome

Philippe Maystadt, ARES – Académie de recherche et d’enseignement supérieur

Frédéric Mérand, Université de Montréal

Leonardo Morlino, LUISS, Rome

Henning Meyer, London School of Economics and Political Science

Kalypso Nicolaïdis, Oxford University

Claus Offe, Hertie School of Governance, Berlin

Heikki Patomäki, University of Helsinki

Thomas Piketty, EHESS/ Paris School of Economics

Jean-Philippe Platteau, Université de Namur

Teresa Ribera, Institut du Développement durable et des relations internationales, Paris

Dani Rodrik, Harvard Kennedy School

Georges Ross, Université de Montreal

Vivien Schmidt, Boston University

Andy Smith, Sciences-Po Bordeaux

Philippe Van Parijs, Univeristé Catholique de Louvain

Jean-Pascal van Ypersele, Univeristé Catholique de Louvain

John Weeks, University of London

Anne Weyembergh, Université Libre de Bruxelles