Der sich stetig ausdehnende Energiecharta-Vertrag gibt Konzernen die Macht, die Energiewende zu blockieren. Nun zeigte eine neue Studie der NGO Corporate Europe Observatory den beispiellosen Einfluss, den der Energiecharta-Vertrag Investoren in fast 50 Ländern verleiht – und enthüllt seine drohende Ausweitung auf zahlreiche Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Vor zwei Jahrzehnten trat ohne nennenswerte öffentliche Diskussion ein undurchsichtiges internationales Abkommen in Kraft: der Vertrag über die Energiecharta (Energy Charter Treaty, ECT). Dieses Abkommen wirkt wie der geheime, magische „Ring, sie alle zu knechten“ aus der Herr der Ringe Trilogie: Er verleiht Konzernen enorme Macht über unsere Energiewirtschaft, einschließlich der Möglichkeit, Staaten vor internationalen Schiedsgerichten zu verklagen und dadurch die Energiewende von klimaschädlichen fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien zu blockieren. Derzeit wird der Vertrag um neue Mitglieder erweitert und droht somit, noch mehr Länder auf konzernfreundliche Energiepolitiken zu verpflichten.
Heute gilt der ECT in fast 50 Staaten von Westeuropa über Zentralasien bis Japan. Der Kern des Vertrags sind weitreichende Rechte für ausländische Investoren im Energiesektor – auch bekannt unter dem berüchtigten Akronym ISDS (investor-state dispute settlement, Investor-Staat-Streitschlichtung).
Die ISDS-Klauseln des ECT geben Energiekonzernen weitreichende Rechte, Staaten vor internationalen Schiedsgerichten zu verklagen, bestehend aus drei privaten Jurist*innen, den Schiedsrichter*innen. Dabei können den Konzernen schwindelerregende Summen an Schadensersatz für angebliche Investitionseinbußen zugesprochen werden – und zwar infolge sogenannter „Enteignungen“ aber auch indirekter Schäden durch quasi jegliche Art der Regulierung. So hat der Energieriese Vattenfall Deutschland wegen Umweltauflagen für ein Kohlekraftwerk sowie wegen des Atomausstiegs verklagt. Das Öl- und Gas-Unternehmen Rockhopper verklagt Italien wegen eines Verbots von Offshore-Ölförderung. Und mehrere Stromversorger verklagen das ärmste Mitgliedsland der EU, Bulgarien, weil die bulgarische Regierung die enorm hohen Strompreise für die Verbraucher*innen gesenkt hatte.
Bisher haben der ECT und seine Profiteure kaum öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Während Konzernklagerechte bei anderen Handels- und Investitionsabkommen lautstarken öffentlichen Protest ausgelöst haben, ist es um den ECT erstaunlich still geblieben. Viele Konzernklagen auf Basis des Vertrags bleiben geheim. Über andere gibt es kaum öffentliche Informationen. In den Ländern, die sich gerade um einen Beitritt zum Vertrag bemühen, scheint kaum jemand je davon gehört, geschweige denn die politischen, rechtlichen und finanziellen Risiken des Abkommens gründlich untersucht zu haben. Diese Studie untersucht den „Einen Ring“ des ECT – ein Vertrag, der großen Einfluss auf die Zukunft unserer Energiesysteme haben wird – sowie die Konzerne und Anwält*innen, die bisher am meisten von ihm profitiert haben.
Zentrale Erkenntnisse:
- Kein anderes Handels- und Investitionsabkommen hat weltweit mehr Investor-Staat-Klagen ausgelöst als der ECT. Bei Redaktionsschluss im Juni 2018 gab es nach Angaben des ECT-Sekretariats insgesamt 114 Klagen. Aufgrund der Intransparenz des Systems dürfte die tatsächliche Zahl aber höher liegen.
- Die Zahl der Investor-Staat-Klagen auf Basis des ECT ist in den letzten Jahren explodiert. Während aus dem ersten Jahrzehnt des Abkommens (1998-2008) nur 19 Fälle bekannt sind, wurden allein in den letzten fünf Jahren (2013-2017) 75 neue Investor-Staat-Klagen eingereicht.* Dieser Trend wird vermutlich anhalten.
- In letzter Zeit haben Investoren vor allem Staaten in Westeuropa verklagt. In den ersten 15 Jahren des Abkommens richteten sich 89 Prozent der ECT-Prozesse gegen Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien, wohingegen heute Spanien und Italien die Liste der am häufigsten verklagten Länder anführen. Der ECT ist bis heute der einzig wirksame Vertrag, den westeuropäische Länder mit anderen kapitalexportierenden Staaten abgeschlossen haben und der ISDS-Schiedsverfahren erlaubt. Es ist auch das einzige Abkommen, auf Basis dessen die EU als Ganzes vor einem Investor-Staat-Schiedsgericht verklagt werden könnte.
- Für Staaten und Steuerzahler*innen steht immer mehr Geld auf dem Spiel. In 16 ECT-Verfahren haben Investoren – meist große Konzerne und reiche Einzelpersonen – auf jeweils 1 Milliarde US-Dollar Schadensersatz geklagt.* Einige der teuersten Klagen in der Geschichte der Schiedsgerichtsbarkeit wurden auf Basis des ECT eingereicht, darunter Vattenfalls Klage gegen den deutschen Atomausstieg (über 5,1 Milliarden US-Dollar). Auch der teuerste ISDS-Schiedsspruch der Geschichte stammt aus der Welt des ECT: ein 50 Milliarden US-Dollar Urteil gegen Russland im Yukos-Fall. Die Prozesskosten betragen bei ISDS-Verfahren durchschnittlich 11 Millionen US-Dollar, können jedoch wesentlich höher liegen.
- Unternehmen klagen auch auf Entschädigung für entgangene „zukünftige Profite“. So verlangt der Öl-Konzern Rockhopper von Italien nicht nur die 40-50 Millionen US-Dollar, die er tatsächlich in die Erschließung eines Ölfelds investiert hat, sondern zusätzlich auch noch 200-300 Millionen US-Dollar Entschädigung für entgangene zukünftige Profite, die das Feld möglicherweise eingebracht hätte, wenn Italien neue küstennahe Öl- und Gasprojekte nicht verboten hätte.
- Regierungen wurden bisher schon zu über 51,2 Milliarden US-Dollar an Schadenersatz verurteilt bzw. haben sich in Einigungen bereit erklärt, dieses Geld zu zahlen. [Die tatsächliche Zahl der Klagen ist vermutlich höher, aber durch die massive Geheimhaltepolitik bei den Verfahren nicht vollends erfassbar.] Das ist ungefähr so viel, wie jährlich investiert werden müsste, um weltweit allen Menschen Zugang zu Energie zu ermöglichen. Noch ausstehende ECT-Klagen haben einen Gesamtwert von 35 Milliarden US-Dollar – wesentlich mehr als der geschätzte Betrag, der jährlich gebraucht würde, um die Folgen des Klimawandels in Afrika zu bewältigen.
- Die meisten ECT-Kläger sind westeuropäische Investoren. 60 Prozent der 150 an den Klagen beteiligten Investoren sind Unternehmen oder Einzelpersonen mit Sitz in den Niederlanden, Deutschland, Luxemburg oder Großbritannien (bzw. dem Steuerparadies Zypern).*
- Die Mehrheit der ECT-Klagen sind EU-interne Verfahren, die europäische Gerichte umgehen. 67 Prozent der ECT-Klagen sind von Investoren aus einem EU-Mitgliedsstaat gegen die Regierung eines anderen EU-Mitglieds erhoben worden, vermutlich wegen der Aussicht auf höheren Schadenersatz als er innerhalb des EU-Rechtssystems möglich wäre. Damit wurde fast die Hälfte aller bekannten intra-EU Investitionsstreitigkeiten auf Basis des ECT eingereicht (die anderen auf Basis bilateraler Abkommen). Im März 2018 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass intra-EU-ISDS-Verfahren im Rahmen bilateraler Investitionsabkommen EU-Recht verletzen, weil sie europäische Gerichte umgehen – ein Argument, das auch auf ECT-Klagen angewandt werden könnte.
- Der ECT kann leicht von Briefkastenfirmen missbraucht werden, die hauptsächlich auf dem Papier existieren und häufig für Steuerhinterziehung und Geldwäsche genutzt werden. So sind 23 der 24 „niederländischen“ Investoren, die über den ECT geklagt haben,* solche Briefkastenfirmen, darunter Khan Netherlands (vom kanadischen Bergbaukonzern Khan Resources für eine Klage gegen die Mongolei genutzt, obwohl Kanada nicht einmal ECT-Vertragspartei ist) sowie Isolux Infrastructure Netherlands und Charanne (Unternehmen, über die die Unternehmer Luis Delso und José Gomis, zwei der wohlhabendsten Spanier, Spanien verklagen konnten). Dank der breiten Definition von „Investor“ und „Investition“ im ECT, können Staaten von Investoren aus der ganzen Welt verklagt werden, einschließlich ihrer eigenen Staatsangehörigen.
- Der ECT wird zunehmend von spekulativen Finanzinvestoren genutzt wie Portfolio-Investoren und Holding-Gesellschaften. In 88 Prozent der Fälle, in denen gegen zurückgenommene Subventionen für erneuerbare Energien in Spanien geklagt wurde, ist die klagende Partei kein Unternehmen aus dem Bereich der erneuerbaren Energien, sondern ein Fond oder anderweitiger Finanzinvestor, der oftmals auch in Kohle, Öl, Gas und Atomenergie investiert. Mehrere dieser Fonds investierten erst, als sich Spanien bereits in einer tiefen Finanzkrise befand und schon einige Subventionen zurückgenommen hatte (was, wie die Fonds später argumentierten, ihre Gewinne schmälerte). Der ECT wird also nicht nur zur Absicherung von Investitionen genutzt, sondern auch als zusätzliche Einnahmequelle.
- Der ECT ist eine mächtiges Instrument, mit dem Öl-,Gas- und Kohle-Konzerne Regierungen an der Umsetzung der Energiewende hindern können. Sie haben Dank ECT und anderen Investitionsabkommen bereits gegen Verbote von Ölbohrungen, verhinderte Pipelines, Steuern für fossile Brennstoffe und den Ausstieg aus umstrittenen Energien geklagt. Solche milliardenschweren Verfahren können Entscheidungsträger*innen gefügig machen: Vattenfalls 1,4 Milliarden Euro Klage gegen Umweltauflagen für das Kohlekraftwerk in Moorburg zwang die Regierung dazu, die Auflagen zu lockern, um den Fall beizulegen.
- Mit dem ECT können Regierungen für Maßnahmen belangt werden, die Elektrizität bezahlbar und Energiearmut senken sollen. Bulgarien und Ungarn wurden bereits auf Schadensersatz in dreistelliger Millionenhöhe verklagt, unter anderem weil sie Profite von Energiekonzernen begrenzt und niedrigere Strompreise eingeführt hatten. Anwält*innen erwägen solche Klagen auch gegen Großbritannien, wo die Regierung jüngst eine gesetzliche Deckelung der Energiekosten angekündigt hat.
- Nur wenige Schiedsrichter*innen dominieren die ECT-Klagen. 25 Schiedsrichter*innen saßen in 44 Prozent der ECT-Tribunale. Zwei Drittel von ihnen traten in anderen Investor-Staat-Klagen auch als Anwält*innen auf, was Fragen nach Interessenkonflikten aufwirft. Diese kleine Gruppe von Anwält*innen hat den ECT bisher sehr unternehmensfreundlich ausgelegt und damit die Chancen auf weitere teure – und erfolgreiche – Investor-Staat-Klagen auf Basis des Abkommens erhöht.
- Fünf Elite-Anwaltskanzleien waren an fast der Hälfte aller bekannten Investor-Staat-Verfahren im Rahmen des ECT beteiligt. Kanzleien sind eine treibende Kraft hinter dem Anstieg der Klagen, da sie den ECT in der Unternehmenswelt bekannt machen und Konzerne zu Klagen ermuntern.
- ECT-Schiedsverfahren werden zunehmend durch professionelle Prozess-Finanzierer gesponsert. Die Anwaltskosten der klagenden Investoren werden dabei von Investmentfonds getragen, die dafür später einen Teil der zugesprochenen Entschädigung erhalten. Dieses Finanzierungsmodell könnte den Boom an Schiedsverfahren weiter anheizen und droht, die Kosten für Staaten zu erhöhen, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie vor Konzernforderungen einknicken.
- Es gibt zunehmend Bedenken bzgl. Insiderschäften und institutionalisierter Korruption in Institutionen, die ECT-Klagen verwalten. Problematisch ist beispielsweise das Schiedsinstitut der Stockholmer Handelskammer (Stockholm Chamber of Commerce, SCC), das in ECT-Prozessen eine prominente Rolle spielt: dortige Verfahren sind oft geheim, anfällig für Interessenskonflikte und möglicherweise stärker gegen die Interessen von Staaten ausgerichtet als andere Schiedsinstitutionen.
- Öl, Gas- und Kohlekonzerne sowie profitorientierte Investitionsschutz-anwält*innen genießen privilegierten Zugang zum ECT-Sekretariat. Dies stellt dessen Neutralität in Frage sowie seine Fähigkeit, im Interesse der ECT-Mitgliedsstaaten und der Energiewende zu handeln. Über 80 Prozent der Konzerne, die im beratenden Industriegremium des ECT sitzen, stammen aus der Öl-,Gas und Kohleindustrie. Zwei Drittel der Anwält*innen der ECT-Task-Force für Rechtsfragen haben ein finanzielles Interesse an Investor-Staat-Klagen. Beide Gremien haben zahlreiche Möglichkeiten das Sekretariat, die ECT-Mitgliedsstaaten und den weiteren Charter-Prozess in ihrem Interesse zu beeinflussen. Mehrere hochrangige Beamte des ECT-Sekretariats waren bei prominenten Investitionsschutz-Kanzleien beschäftigt, bevor und/oder nachdem sie für das Sekretariat arbeiteten.
- Viele Länder aus der ganzen Welt befinden sich im Prozess, dem ECT beizutreten und laufen somit Gefahr, sich langfristig auf konzernfreundliche Energiepolitiken zu verpflichten. Jordanien, Jemen, Burundi und Mauretanien stehen bereits kurz vor dem Beitritt (sie ratifizieren den ECT). Danach folgt Pakistan (wo Investitionsschiedsverfahren umstritten sind, das aber schon zum Beitritt zum ECT eingeladen ist) und eine Reihe von weiteren Ländern, die sich in unterschiedlichem Stadien zur Vorbereitung ihrer Beitrittsberichte befinden (Serbien, Marokko, Swasiland – im April 2018 umbenannt in eSwatini –, Tschad, Bangladesch, Kambodscha, Kolumbien, Niger, Gambia, Uganda, Nigeria und Guatemala). Viele weitere Länder haben die nicht bindende “Internationale Energiecharta” unterzeichnet, ein erster Schritt hin zum Beitritt in den rechtlich bindenden ECT.
- Das Bewusstsein über die politischen und finanziellen Risiken des ECT ist in den potentiellen neuen Vertragsländern alarmierend gering. Beamt*innen aus Ministerien, die Erfahrungen haben mit der Aushandlung von Investitionsverträgen und der Verteidigung von Investor-Staat-Schiedsverfahren, sind bisher kaum involviert, da i.d.R. Energieministerien federführend sind. Das ist besorgniserregend, denn viele dieser Länder haben bereits desaströse Erfahrungen mit Investor-Staat-Klagen im Rahmen anderer Investitionsverträge gemacht. Ein Beitritt zum ECT könnte die Zahl solcher Klagen um ein Vielfaches erhöhen.
- Der Erweitungsprozess wird vom ECT-Sekretariat, der EU und der Schiedsindustrie auf aggressive Weise vorangetrieben. Sie wollen Zugang zu ergiebigen Energiequellen im globalen Süden erhalten und ihre eigene Macht und Profitmöglichkeiten erweitern. Während sie die Risiken eines ECT-Beitritts herunterspielen oder zurückweisen, bewerben sie das Abkommen als notwendige Bedingung, um ausländische Investitionen anzuziehen, insbesondere in erneuerbare Energien und zum Kampf gegen Energiearmut. Allerdings gibt es aktuell keinen Beleg dafür, dass der ECT tatsächlich hilft, Energiearmut zu lindern und Investitionen anzuziehen, geschweige denn Investitionen in erneuerbare Energien.
Aber es gibt auch gute Neuigkeiten. Weltweit wendet sich das Blatt gegen Konzernprivilegien, wie sie im ECT festgeschrieben sind. Aktivist*innen, Akademiker*innen und Parlamentarier*innen beginnen, den Vertrag kritisch zu hinterfragen. Europäische Gerichte könnten dem ECT an den Kragen gehen. Und es könnten noch mehr Länder dem Beispiel Russlands und Italien folgen, die den ECT bereits verlassen haben.
Die Studie warnt vor den Gefahren, die die Ausweitung des ECT durch eine stetig wachsende Zahl an Mitgliedsstaaten bedeuten würde und nennt am Schluss acht Gründe, den ECT zu verlassen – oder ihm niemals beizutreten. Ganz so wie es der „Gefolgschaft“ aus neun Gefährten um den kleinen Hobbit Frodo Beutlin im Herrn der Ringe gelingt, den “Einen Ring” zu zerstören, könnte eine Gefolgschaft aus Bürger*innen, Akademiker*innen, Abgeordneten, Gerichten und Regierungen entstehen, der es letztendlich gelingen könnte, die Macht des ECT-„Rings“ zu brechen.
Die ausführliche Studie (auf englisch) gibt es hier.
Zahlreiche Infographiken zu den wesentlichen Erkenntnissen finden sich (auf englisch) auf energy-charter-dirty-secrets.org.