Die Zumutungen der neoliberalen Globalisierung, die von den EU-Handelsabkommen noch beschleunigt wird, haben einen großen Anteil am politischen Backlash, an rechtsnationalem Populismus und Rassismus.
Von Werner Raza, Leiter der Österreichischen Forschungsstelle für Internationale Entwicklung. Er veröffentlichte seinen Beitrag im September 2018 im A&W-Blog (Arbeit & Wirtschaft), der von der Arbeiterkammer Österreich und vom Österreichischen Gewerkschaftsbund ÖGB organisiert wird.
Die berechtigte Kritik an der neoliberalen Globalisierung wird zunehmend vom Trump’schen Protektionismus an den Rand gedrängt. Gegen populistischen Protektionismus hilft aber kein bedingungsloses Bekenntnis zum Freihandel. Soziale Ungleichheit als Resultat der Globalisierung führt zu besorgniserregenden politischen Folgekosten. Stattdessen braucht es ein Projekt zur Wiedergewinnung von politischen Handlungsspielräumen und Stärkung demokratischer Teilhabe. Kurz: eine Globalisierungsagenda für die Vielen auf Basis eines guten Lebens für alle.
Das Hohelied von der Globalisierung
Spätestens mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 sind die VerfechterInnen der ökonomischen Globalisierung in die Defensive geraten. Wurden in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren unentwegt die Vorzüge von freien Handels- und Finanzströmen gepriesen, so kommen die „Globalisierer“ aus OECD, EU-Kommission oder Weltbank nicht zuletzt aufgrund der politischen Erfolge „populistischer“ Kräfte heute nicht mehr umhin, einzugestehen, dass offene Märkte nicht nur GewinnerInnen, sondern auch VerliererInnen produzieren (siehe zum Beispiel hier und hier). Letztere werden vor allem unter den gering qualifizierten Beschäftigten ausgemacht.
Gleichzeitig wird die Verantwortung dafür primär dem technologischen Wandel zugesprochen. Das ist wenig überzeugend, wie auch die jüngere Forschung zeigt. Vor allem Finanzialisierung und Outsourcing sind wesentlich für die starken Verteilungseffekte der Globalisierung verantwortlich. Ist die Schuld an den negativen Verteilungseffekten erst einmal auf den vermeintlich neutralen Faktor „technischer Fortschritt“ geschoben, lässt es sich freilich leichter argumentieren, dass die Globalisierung insgesamt mehr Wachstum und Wohlstand gebracht hat.
Am Ziel der Fortführung einer solchen Globalisierung in Form sogenannter „tiefer und umfassender“ Handels- und Investitionsabkommen mit dem Fokus, bestehende Regulierungsunterschiede zwischen den Staaten und Regionen einzuebnen, wird daher von OECD und EU-Kommission unvermindert festgehalten. Lediglich die sozialen Nachteile in Form von höherer Arbeitslosigkeit oder Niedriglöhnen sollen durch Transfers und Umschulungsmaßnahmen abgefedert werden. Ansonsten wird die zum Teil berechtigte Kritik am Trump’schen Protektionismus zum Anlass genommen, die Richtigkeit wie Alternativlosigkeit eines Festhaltens am „Freihandel“ zu betonen.
Es wird also weiter das Hohelied der Globalisierung gesungen. Die Kritik wird zum einen diskursiv delegitimiert, indem insinuiert wird, dass die Populisten der Bevölkerung die Unwahrheit sagen. Zum anderen wird mit dem partiellen Eingeständnis der Schattenseiten der Globalisierung an die rationalen Kräfte unter den Gewerkschaften oder der Zivilgesellschaft appelliert, deren Fortsetzung als sozialpolitisch etwas aufgefettetes Projekt der vereinigten Kräfte der Aufklärung gegen den Widerstand der dumpfen Protektionisten und Populisten à la Trump & Co. zu unterstützen.
Ein solches Angebot anzunehmen, ist für Gewerkschaften und andere fortschrittliche Kräfte strategisch gefährlich. Es unterschätzt nicht nur den Wahrheitsgehalt der Globalisierungskritik, sondern übersieht, dass die Vertiefung des neoliberalen Globalisierungsprojekts die Gefahr des Abgleitens in den Autoritarismus erhöht. Stattdessen wäre ein alternatives Projekt nötig, das möglichst viele an den Vorteilen der Globalisierung teilhaben lässt und gleichzeitig die Prioritäten der Globalisierungspolitik auf Basis einer sozial-inklusiven und ökologisch nachhaltigen Politikkonzeption neugestaltet.
Mehr Wachstum?
Festzuhalten ist, dass die Vorteile der Globalisierung in Form von Wachstum und Beschäftigung weniger deutlich ausgefallen sind, als vorhergesagt wurde. Dafür treten die Nachteile in Form von steigender sozialer und regionaler Polarisierung und ihrer politischen Folgekosten immer deutlicher in Erscheinung.
Neben größerer Produktauswahl und günstigen Preisen wurde die liberale internationale Wirtschaftsordnung mit offenen Märkten und freiem Kapitalverkehr vor allem zur Garantin für wirtschaftliche Prosperität, also von Wachstum und Beschäftigung, stilisiert. Besonders von exportorientierten Ländern wie Deutschland, Japan oder auch China wird diese Position als Ausweg aus der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 mit Nachdruck vertreten. Dabei wird freilich übersehen, dass vierzig Jahre Globalisierung mit langfristig sinkendem Wachstum des globalen Pro-Kopf-Einkommens einhergehen. Eine Vielzahl von Studien hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vergeblich bemüht, einen robusten positiven Zusammenhang zwischen Handelsliberalisierung und Wirtschaftswachstum nachzuweisen (siehe z. B. hier und hier).
Für die schwache Wachstumsperformance der Weltwirtschaft sind vor allem zwei Faktoren ausschlaggebend. Der erste Faktor liegt in der starken Umverteilung von Lohneinkommen zu Gewinneinkommen. So sind die Lohnquoten (also der Anteil der Löhne am gesamten Volkseinkommen) in der OECD-Welt seit den 1970er-Jahren um bis zu zehn Prozent gesunken.
Gleichzeitig ist auch die globale Investitionstätigkeit deutlich zurückgegangen. Die gestiegenen Gewinne wurden also nicht in die reale Wirtschaft investiert, sondern für unproduktive Zwecke (z. B. Finanzveranlagung, Aktienrückkäufe, Unternehmensübernahmen) verausgabt.
Der zweite wesentliche Faktor für die schwache globale Wachstumsdynamik hat mit dem ungleichgewichtigen Charakter des internationalen Handels zu tun. Das Ausmaß der bilateralen Handelsüberschüsse und -defizite hat kontinuierlich zugenommen. Wachsende Ungleichgewichte erhöhen aber das Risiko von Zahlungsbilanz- und Verschuldungskrisen. Letztere führen zu drastischen Wachstums- und Beschäftigungseinbrüchen, wie die lange Liste solcher Krisen seit den frühen 1980er-Jahren zeigt.
Bessere Lebensbedingungen?
Dass die zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft GewinnerInnen und VerliererInnen produziert, ist zwar in der akademischen Diskussion bekannt. In der wirtschaftspolitischen Praxis der letzten Dekaden wurden daraus aber keine Konsequenzen gezogen. An den allgemeinen Wohlstandsgewinnen würden letztlich auch die VerliererInnen zum Beispiel in Form neuer Jobchancen teilhaben, so die verbreitete Annahme. Diese Sichtweise tolerierte drastisch zunehmende Ungleichheit als Folge der Globalisierung und blieb gegenüber der starken Zunahme sozialer Polarisierung, sowohl von Beschäftigung als auch Einkommen, blind.
In den letzten Jahrzehnten gab es in der OECD praktisch kein Beschäftigungswachstum mehr im Segment mittlerer Qualifikationen. Im Gegenteil, die Jobs für Büroangestellte oder FacharbeiterInnen wurden immer knapper. Stattdessen nahmen die Jobs vor allem im hoch qualifizierten Segment und zum Teil auch im Niedrigqualifikationsbereich zu, zumeist aber in Form von prekärer Beschäftigung mit schlechten Arbeitsbedingungen und niedriger Bezahlung. Wenig überraschend sanken auch die Einkommen, vor allem für die mittleren Qualifikationsgruppen in den USA und der EU. All das hat nicht bloß mit „neutralem“ technischen Wandel, sondern eben auch viel mit Outsourcing- bzw. Offshoring-Prozessen und übertriebener Shareholderorientierung als wesentlichen Elementen der Geschäftsstrategien von international agierenden Unternehmen zu tun. Die sozioökonomische Erosion der arbeitenden Mittelschichten konnte auf Dauer politisch nicht folgenlos bleiben, zumal wenn sie regional konzentriert auftritt.
Populismus und Nationalismus als politische Folgekosten
So kommt eine Studie der renommierten MIT-Forscher Autor, Dorn und Hansen zu dem Ergebnis, dass allein durch die Zunahme des Handels mit China in den USA zwischen 1999 und 2011 rund 2,4 Millionen Jobs in der verarbeitenden Industrie verloren gegangen sind. Ist die Arbeitslosigkeit regional konzentriert und mangels anderer Beschäftigungsmöglichkeiten persistent [dauerhaft], wie in den traditionellen US-amerikanischen Industriegebieten, kann dies zu gravierenden sozialen Problemen und früher oder später auch zu politischem Protest führen. Dass der WählerInnenprotest überproportional in von Wirtschaftskrisen geprägten Regionen geschieht, ist durch die neuere Forschung für die USA und auch Großbritannien klar belegt (siehe hier und hier). Ebenso gibt es deutliche Hinweise, dass in von Handelseffekten betroffenen Regionen autoritäre Einstellungen zunehmen (siehe hier). Die von Globalisierungsprozessen wesentlich mitinduzierten [mit herbei geführten] sozio-strukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte lassen den bekannten Harvard-Soziologen Robert Putnam in seinem letzten Buch zu dem Schluss kommen, dass der amerikanische Traum des sozialen Aufstiegs für die junge Generation der AmerikanerInnen inzwischen illusionär geworden sei.
Der Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus ist ebenso wie der Aufstieg rechtsnationalistischer Kräfte in Europa kein Zufall, sondern Ausdruck tiefgreifender sozio-struktureller Veränderungen in den westlichen Gesellschaften. An diesem politischen Backlash haben die Zumutungen der neoliberalen Globalisierung einen bedeutenderen Anteil als bislang angenommen. Wenn breite Bevölkerungskreise unter stagnierenden Einkommen und schlechten Jobperspektiven leiden und die wirtschaftlichen Aussichten für die eigenen Kinder und Enkelkinder auf dem Spiel stehen, fallen moderate Preise und eine breite Produktauswahl als die typischen Vorteile der Globalisierung eben nicht wirklich ins Gewicht.
Die sogenannten VerliererInnen der Globalisierung wenden sich von den etablierten politischen Kräften ab und unterstützen alternative politische Angebote, auch wenn diese problematischer Natur sind. Das gilt gleichermaßen für die USA und Europa, wo die traditionellen Parteien des politischen Zentrums (Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale) von einer fortschreitenden Erosion ihrer Glaubwürdigkeit betroffen sind. Seit 2000 mussten vor allem sozialdemokratische Parteien Stimmenverluste von bis zu 50 Prozent hinnehmen, großteils zugunsten rechts-nationalistischer Parteien.
Globalisierung braucht gutes Leben für alle
Wie schon Joseph Schumpeter betonte, ist kapitalistische Entwicklung ein ständiger Prozess schöpferischer Zerstörung. Die dem System innewohnende Dynamik verspricht zwar höhere materielle Prosperität, fordert aber vor allem von der breiten Masse der Bevölkerung (Lohnabhängige, LandwirtInnen, KleinunternehmerInnen etc.) auch immer wieder große Opfer.
Dieser permanente Strukturwandel wurde durch vier Jahrzehnte Handels-, Kapital- und Finanzmarktliberalisierung noch zusätzlich befeuert. Im Unterschied zum „embedded Liberalism“ der Nachkriegsjahrzehnte im globalen Norden mit seiner Mischung aus gradueller Liberalisierung bei starken nationalstaatlichen Steuerungskapazitäten und ausgebauten Sozialstaaten stehen heute sinkende ökonomische Globalisierungserträge steigenden sozialen Kosten gegenüber. Letztere können von politisch bedrohten Wohlfahrtssystemen immer schlechter kompensiert werden.
Die Paradoxie neoliberaler Globalisierung besteht gerade darin, dass die Win-win-Konstellation von ökonomischer Liberalisierung bei gleichzeitiger sozialer Absicherung durch die Politik der letzten Jahrzehnte weitgehend untergraben wurde. Die politischen Folgen dieses Systembruchs – hohe Wahlenthaltung, Erosion der traditionellen politischen Mitte, Aufstieg rechts-nationalistischer Parteien, Aushöhlung liberaldemokratischer Systeme und Renaissance autoritärer Politikformen – treten nunmehr offen zutage.
Das konstitutive, aber aus der Balance geratene Spannungsverhältnis zwischen politischer Gleichheit als Grundpfeiler demokratischer Herrschaft und ökonomischer Ungleichheit als Bedingung kapitalistischer Wirtschaftsweise muss also neu austariert werden, will man ein weiteres Abdriften in illiberale bis offen autoritäre Regierungsformen verhindern.
Konkret und unmittelbar bedeutet dies, dass ökonomische Ungleichheit reduziert und demokratische Teilhabe wiedergewonnen werden muss. Ein solches Vorhaben darf nicht auf die Einsicht der Vermögenden hoffen, sondern muss politisch erkämpft werden. Dafür braucht es eine Allianz von traditionellen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Kirchen mit den VertreterInnen des Prekariats als der neuen, vom Neoliberalismus geschaffenen Klasse der Werktätigen.
In programmatischer Hinsicht muss vor allem die gemeinsame Perspektive eines „guten Lebens für alle“ neu definiert werden. Nach meinem Dafürhalten besteht eine solche aus drei strategischen Eckpfeilern. Erstens dem Kampf gegen ökonomische, soziale und politische Ungleichheit im Sinn von Nancy Frasers Konzept von Anerkennung, Repräsentation und Umverteilung. Zweitens der Absage an die neoliberale Globalisierung und der Re-Definition der Prioritäten internationaler Zusammenarbeit in Form einer solidarischen Globalisierungsagenda. Statt weiterer Handelsliberalisierung, Deregulierung und Privatisierung müssen die Prioritäten auf Kooperation zur Steuervermeidung, Finanzmarktregulierung, Klimapolitik und globaler Armutsbekämpfung liegen.
Last but not least braucht es einen „Green New Deal“ für die dringend nötige sozial-ökologische Transformation unserer umweltschädigenden „imperialen Lebensweise“. Das geht nicht ohne die protagonistische Rolle eines starken öffentlichen Sektors als Förderer von Forschung und Innovation (Mazzucato’s Entrepreneurial State), braucht aber auch alternative Formen der Kooperation zwischen Privatsektor, Zivilgesellschaft und Staat. Vor allem die alte Idee der Förderung eines dritten Sektors solidarischer Ökonomie auf lokaler und regionaler Ebene ist hier von Relevanz. Sozialstaatliche Absicherung und eine Employer-of-last-Ressort-Funktion sollten weiterhin vom öffentlichen Sektor bereitgestellt werden. Zur Finanzierung eines solchen Programms bieten sich höhere Vermögensabgaben, ökologische Steuern und EZB-finanzierte Investitionsfonds an.
Die Perspektive einer Globalisierung für die Vielen vermeidet eine Engführung auf die liberale Diskussion über Freihandel versus Protektionismus. Nicht um Schwarz-Weiß-Malerei – hier der gute Freihandel, dort der böse Protektionismus – geht es, sondern um die Wiedergewinnung politischer Handlungsspielräume und die Stärkung demokratischer Teilhabe angesichts der hohen sozialen, ökologischen und politischen Kosten neoliberaler Globalisierung. Die drei Eckpfeiler Bekämpfung der Ungleichheit, solidarische Globalisierungsagenda und Green New Deal könnten den Kern eines solchen Projekts bilden.