BVerfG gegen EuGH: Wer ist da europarechtswidrig?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) schlägt seit Tagen hohe Wellen. Mit seiner Kritik an der EZB, der Karlsruhe mangelnde Transparenz und Kompetenzüberschreitung vorwirft, habe sich das BVerfG über den Europäischen Gerichtshof (EuGH) hinweg gesetzt – und schade damit die EU, heißt es von vielen Seiten. Aber stimmt das? Und wer schadet wem?

Kurz nach der Entscheidung des BVerfG in Sachen EZB-Anleihenkauf hat der grüne Europaparlamentsabgeordnete Sven Giegold die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesregierung beantragt; das Urteil laufe auf eine „Bedrohung der europäischen Rechtsgemeinschaft“ hinaus, argumentiert er. Die EU-Kommission plant mittlerweile die Einleitung eines solchen Verfahrens. Die Anwältin Gisela Toussaint sieht das ganz anders. Hier ihre Begründung:

Das eigentliche Problem ist die zum Teil offen europarechtswidrige Rechtsprechung des EuGH.Denn die Rechtsprechung des EuGH ist zum Teil tatsächlich so haarsträubend europarechtswidrigund wissentlich rechtsbeugend, dass es meines Erachtens völlig richtig ist, dass das BVerfG hier endlicheinmal eine klare und inhaltliche Kritik formuliert und auf die Europarechtswidrigkeit hinweist, umerheblichen Schaden von den BürgerInnen abzuwenden und ihre Rechte sowohl als BürgerInnen derBundesrepublik Deutschland als auch Europas zu verteidigen.

Der EuGH hat insbesondere in zwei sogenannten Gutachten im Zusammenhang mitVerfassungsklagen gegen Freihandelsabkommen massiv europarechtswidrige Entscheidungengetroffen, an die das BVerfG theoretisch gebunden ist.Als Rechtsanwältin und Mitglied des „Netzwerks gerechter Welthandel“ bemühe ich mich in diesenVerfahren seit Jahren, auf die grobe Fehlerhaftigkeit dieser EuGH-Gutachten hinzuweisen und dasBVerfG dazu zu bewegen, gegen diese EuGH-Gutachten zu entscheiden.

Es geht zum einen um das EuGH-Gutachten 2/15, welches die „EU-only-Zuständigkeit“ bezüglich derVerhandlung und des Abschlusses von EU-Freihandelsabkommen „begründet“.Tatsächlich kann man jedoch leicht nachweisen, dass dies allein schon aufgrund der originärenZuständigkeit aller EU-Mitgliedstaaten zur wirtschaftspolitischen Umsetzung des – völkerrechtlichübergeordneten – Paris-Abkommens grob falsch ist. Ich habe dies in meinerVerfassungsbeschwerdeschrift gegen JEFTA ab S. 42 ff detailliert nachgewiesen (hier geht es zum Dokument).

Die absolute Unhaltbarkeit des EuGH-Gutachtens 2/15 hat zur Folge, dass alle EU-Freihandelsabkommen, die fälschlicherweise als „EU-only-Abkommen“ und nicht als „gemischtesAbkommen“ abgeschlossen wurden und werden, grundsätzlich fehlerhaft und somit rechtswidrigund unwirksam sind.

Zum anderen geht es um das EuGH-Gutachten 1/17, welches das CETA-Investor-State-Dispute-Settlement für europarechtskonform erklärt hat und zwar in einer nachweisbar bewusst grobrechtsbeugenden Weise. Dies weise ich in einem ergänzenden Schriftsatz im Verfahren gegen dasEU-Singapur-Abkommen nach, insbesondere ab S. 5 ff (hier geht es zum Dokument).

Gerade das CETA-Investor-Schiedssystem würde – auch in seiner abgeänderten Form – eine neue institutionalisierteMöglichkeit für Konzerne schaffen, ihre Profitinteressen gegen Regierungen und deren Pflicht bzw.Willen zur schnellstmöglichen Umsetzung der Dekarbonisierungspflicht des Paris Abkommensdurchzusetzenund dieses damit massiv zu blockieren, insbesondere weil das Gericht über diewesentlichen Fragen gar nicht selbst entscheidet sondern an zuvor von internen „Ausschüssen“getroffene „Feststellungen“ gebunden ist.

Statt einer neoliberalen Institutionalisierung von ISDS ist grundsätzlich ganz im Gegenteil die neuentstandene absolute Vorrangstellung des Paris-Abkommens als „ius cogens“ vor dem in Art. XXGATT nunmehr fehlerhaft postulierten Vorrang der Interessen von Handel und Wirtschaft gem. Art.53, 64 WVRK zu bestätigen mit der gravierenden Rechtsfolge einer fundamentalen Neuausrichtungauch der Wirtschafts- und Handelspolitik sowie der Wirtschafts- und Handelsabkommen – zurRettung des Weltklimas und somit zur Rettung der gesamten Menschheit.

Diese völkerrechtliche Verankerung von Klimaschutzmaßnahmen sowie deren elementare neueVorrangstellung gegenüber neoliberalen Wirtschaftsinteressen hat der EuGH in seinem „CETA-ISDS-Gutachten“ grob ausgeblendet statt sie – wie es zum Überleben der Menschheit erforderlich wäre –gerade auch im Bereich EU-Wirtschafts- und Handelsrecht in der europäischen Rechtsprechungumzusetzen bzw. durchzusetzen.

Wir bitten das BVerfG deshalb ganz ausdrücklich, sich gegen die EuGH-Gutachten zu stellen und dieseals groben Rechtsbruch zu entlarven, denn der EuGH benutzt seine letztinstanzliche Machtoffensichtlich weiterhin lediglich, um durch grob europarechtswidrige und völkerrechtswidrigeGutachten europarechtswidrige neoliberale Rechtspositionen gerichtlich zu manifestierenstatt dieüberlebenswichtige klimapolitische Transformation der gesamten Weltwirtschaft gerade auch aufrechtlicher Ebene zu unterstützen und höchstrichterlich durchzusetzen.

Die öffentliche Kritik sollte sich daher nicht gegen das BVerfG sondern gegen die massiv neoliberaleund rückwärtsgewandte Spruchpraxis des EuGHwenden.

Eine solche neoliberale und klimaschutzfeindliche Spruchpraxis des EuGH passt im Übrigen auch inkeinster Weise mehr zum „European Green Deal“ der EU-Kommission, den das EuropäischeParlament ebenfalls ganz ausdrücklich unterstützt.