Schadensersatzklagen wegen Corona-Maßnahmen

 

Das war ja zu erwarten gewesen: Überall auf der Welt bereitet die internationale Anwaltsindustrie Klagen gegen Staaten vor, die ihrer Meinung nach profitmindernde Maßnahmen ergriffen haben. Das ist dank der Investitionsschutzklauseln möglich, die in vielen Freihandelsverträgen stehen – auch im EU-Kanada-Abkommen CETA. Darüber berichten die Süddeutsche Zeitung und der Österreichische Rundfunk, die sich auf eine Studie der Brüsseler NGO Corporate Europe Observatory stützen.

 

Zuerst der Beitrag in der Süddeutschen Zeitung von Alexander Hagelüken

Am 26. März meldete Italien insgesamt 8000 Corona-Tote, damals doppelt so viel wie sonstwo auf der Welt. Im Land breitete sich Verzweiflung aus. Am selben Tag schrieben mehrere italienische Anwälte in einem Fachblatt, „die hektisch entworfenen und schlecht koordinierten“ staatlichen Maßnahmen bekämpften nicht nur die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Schäden. Sie bewirkten womöglich noch etwas ganz anderes: „Die Maßnahmen könnten den Weg für Schadensersatzklagen ausländischer Investoren gegen Italien ebnen“.

Die Basis dafür sind Tausende Abkommen, die ausländischen Firmen helfen, die in Italien oder vielen anderen Ländern weltweit tätig sind. „Inmitten dieser dramatischen Krise bereitet die Anwaltsindustrie überall auf der Welt Klagen gegen Anti-Corona-Maßnahmen vor“, schreibt die NGO Corporate Europe Observatory (CEO) in einer Studie, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Müssen Corona-geplagte Staaten bald Milliarden Schadenersatz an Konzerne zahlen, weil sie ihre Bürger vor den Folgen der Pandemie abschirmen?

Der Schutz ausländischer Investoren war schon ein Aufreger beim geplanten TTIP-Handelsvertrag mit den USA, gegen den Hunderttausende demonstrierten. Grundsätzlich sind Investitionsabkommen legitim, um ausländische Firmen davor zu bewahren, dass Regierungen sie willkürlich behandeln. Doch die Konzernklagen gerieten in Verruf, seit etwa der Stromkonzern Vattenfall Deutschland nach dem Atomausstieg auf fast fünf Milliarden Euro [tatsächlich sind es über sechs Milliarden, pw] Schadenersatz verklagte. Oder seit der Tabakkonzern Philip Morris Australien verklagte, weil es Tabakwerbung verbot. Die Klage gegen Deutschland läuft noch, Australien blieb auf Millionen Euro Rechtskosten sitzen. Die Aufregung über solche Klagen führte dazu, dass die EU bei Handelsverträgen wie TTIP umschwenkte – und nun fordert, dass staatliche Richter statt privater Schiedsgerichte über Konzernklagen entscheiden [bei CETA zum Beispiel ist das eher Augenwischerei, pw] .

Bei etwa 1000 Klagen in den vergangenen 25 Jahren traf es etwa Argentinien hart: Der südamerikanische Staat musste Hunderte Millionen Euro [insgesamt rund eine Milliarde, pw] Schadenersatz wegen Maßnahmen zahlen, die er in der Wirtschaftskrise 2001 ergriff. Dazu zählte, dass er die Energie- und Wasserpreise einfror, um seine Bürger zu entlasten.

In Italien müssen besonders betroffene Bürger zeitweise ihre Hauskredite nicht bedienen

Ähnlich gelagerte Maßnahmen könnten nun bei Corona zu Klagen führen, lässt sich aus Äußerungen internationaler Anwaltsfirmen destillieren. Zum Beispiel verbot die spanische Regierung Energiefirmen, Kunden Strom und Wasser abzudrehen, die wegen der Krise ihre Rechnung nicht zahlen können. In El Salvador dürfen Familien zunächst ihre Wasserrechnung schuldig bleiben. In Spanien und Italien müssen besonders betroffene Bürger zeitweise ihre Hauskredite nicht bedienen. Spanien und Irland übernahmen temporär die Kontrolle über private Kliniken, um dort Corona-Patienten unterzubringen, was manche Kliniken verweigert hatten. Deutschland, Kanada und Israel ermöglichen Firmen, in der Pandemie benötigte Medizinprodukte herzustellen, obwohl dafür eine andere Firma das Patent hält. In den USA und Spanien dürfen zur Not Produktionsanlagen beschlagnahmt werden, um dort medizinische Geräte herzustellen.

„Diese potenziellen Klagen und der mögliche Schadenersatz werden perverserweise Staaten belasten, die ohnehin immense finanzielle Lasten tragen“, kritisiert Corporate Europe Observatory https://corporateeurope.org/en]. Auch die UN-Organisation Unctad warnt, die Regierungen könnten Ziel von Auseinandersetzungen werden, „obwohl ihre Maßnahmen im Interesse ihrer Bürger seien“.

Werden die Konzerne wirklich Erfolg haben, wenn sie wegen gerechtfertigter Anti-Corona-Maßnahmen gegen Regierungen vorgehen? Der Juraprofessor und Anwalt Massimo Benedettelli erklärt es für unwahrscheinlich, dass Konzerne auf Entschädigung für Verluste durch Maßnahmen klagen, die ein Staat ergreife, um seine Bürger von der Bedrohung durch das Virus zu schützen. So viel Schutz gewähre kein Abkommen ausländischen Investoren. „Die Abkommen schützen Investoren aber vor Fehlverhalten der Staaten, wenn die ihre Macht ausüben.“

Was sind gerechtfertigte Anti-Corona-Maßnahmen, wo beginnt Fehlverhalten? Gut möglich, dass diese Frage bald bei Investorenklagen ausgefochten wird.


Und im ORF heißt es:

Pandemische Prozesswelle

Möglich werden die Klagen durch bereits existierende Handels- und Investitionsabkommen, die aufgrund der Pandemie bzw. der Maßnahmen der Staaten dagegen nun nicht eingehalten werden. Genauer geht es dabei um das Investor-state dispute settlement (ISDS), einen Investitionsschutz, der ein Streitbeilegungsverfahren zwischen Firmen und Staaten als Teil internationaler Abkommen ermöglicht.

ISDS ist ein Instrument des internationalen Rechts und erlaubt einem ausländischen Investor, gegen einen Staat, in dem er investiert hat, ein Verfahren anzustoßen, wenn er seine nach internationalem öffentlichen Recht garantierten Rechte verletzt sieht. Dadurch könnten Staaten in der aktuellen Krise mit Klagen in Millionenhöhe konfrontiert werden, warnte CEO.

Viele bilaterale Investitionsschutzabkommen beinhalten die Möglichkeit einer ISDS-Klage, so etwa NAFTA, der Vertrag über die Energiecharta und die aktuellen Entwürfe zu TTIP, CETA und TPP. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt die Vereinbarkeit von Schiedsklauseln in Investitionsschutzabkommen mit EU-Recht grundsätzlich infrage.

Hinweise, dass solche Kalkulationen bereits in vollem Gange sind, gebe es zahlreiche, so Pia Eberhardt, Kampagnenleiterin bei CEO. Die NGO spricht sogar von einer „pandemischen Prozesswelle“. So habe etwa die italienische Anwaltskanzlei ArbLit einen Artikel mit dem Titel „Könnten Notfallmaßnahmen wegen Covid‐19 zu Investitionsansprüchen führen? Erste Überlegungen aus Italien“ veröffentlicht – zu einem Zeitpunkt, als in Italien bereits über 8.000 Menschen an dem Coronavirus gestorben seien.

Eberhardt zeigte sich schockiert darüber. „Anstatt sich über die Rekordzahl an Coronavirus‐Toten in Italien Sorgen zu machen, machten sich die Anwälte Gedanken darüber, ob die ‚übereilten und schlecht koordinierten‘ Maßnahmen der italienischen Regierung ‚durchaus in den Geltungsbereich von Investitionsverträgen zwischen Italien und anderen Staaten fallen könnten‘“, wird die Kanzlei in einer Aussendung von CEO zitiert. Diverse Papers und auch Onlinekurse würden vonseiten mehrerer Anwaltskanzleien für Firmen bereits angeboten.

Entsetzt über diese Vorgehensweise reagierte auch Alexandra Strickner von der globalisierungskritischen NGO Attac in Wien gegenüber ORF.at. „Sonderklagerechte für Konzerne sind ein soziales und demokratiepolitisches Desaster, bei dem nur Profite zählen“, so Strickner und übte harsche Kritik: „Die Rettung von Menschenleben und die Bewältigung der Krise sind wichtiger als die Gewinninteressen von Investoren.“

„Paralleles Justizsystem“

Die Anwaltskanzlei Ropes & Gray gab auf der anderen Seite eine Warnung für Konzerne heraus: „Die Regierungen haben auf Covid-19 mit einer Reihe von Maßnahmen reagiert, darunter Reisebeschränkungen, Einschränkungen der Geschäftstätigkeit und Steuervorteile. Ungeachtet ihrer Legitimität können sich diese Maßnahmen negativ auf Unternehmen auswirken, indem sie die Rentabilität verringern, Fortschritt verzögern oder von staatlichen Vergünstigungen ausschließen“, schrieb Ropes & Gray in einer Veröffentlichung: „Für Unternehmen mit ausländischen Investitionen könnten Investitionsvereinbarungen ein wirksames Instrument sein, um Verluste (…) auszugleichen oder zu verhindern.“

Die Zahl der ISDS‐Klagen ist in den letzten zehn Jahren in die Höhe geschnellt, und mit ihr auch die Höhe der Beträge, um die es dabei geht. Zahlreiche Expertinnen und Experten kritisieren ISDS daher seit Jahren heftig als „paralleles Justizsystem für Reiche“, das ermögliche, Gerichte zu umgehen und öffentliche Gelder als Entschädigung zu erhalten. CEO rechnete vor, dass Gerichtskosten für ISDS-Streitigkeiten im Schnitt auf rund fünf Millionen US‐Dollar (ca. 4,6 Mio. Euro) pro Partei kämen, jedoch gebe es auch weitaus höhere Kosten bis zu 30 Millionen US-Dollar (ca. 28 Mio. Euro). CEO geht folglich von einem großen Geschäft für die Anwaltskanzleien selbst aus.

In den letzten 25 Jahren gab es über 1000 derartiger Klagen, die sich etwa während der argentinischen Finanzkrise Anfang der 2000er Jahre und während des Arabischen Frühlings 2010 gehäuft hatten. „Investoren haben eine beträchtliche Anzahl von ISDS‐Klagen gewonnen“, so CEO. „Da Staaten mit der Pandemie und dem Wiederaufbau ihrer Volkswirtschaften zu kämpfen haben, könnten ISDS‐Fälle eine enorme zusätzliche finanzielle Belastung bedeuten.“

Zahlreiche Anwendungsbereiche

Die NGO zählt zahlreiche Felder auf, in denen ISDS im Zuge der Coronavirus-Krise angewandt werden könnte. In El Salvador und Bolivien etwa garantierten die Regierungen ausreichende Wasserversorgung, auch für den Fall, dass Zahlungen von Privatverbraucherinnen und -verbrauchern ausbleiben könnten. Die Weltbank begrüßte diese Maßnahme, die Anwaltskanzlei Hogan Lovells aber kritisierte in einem Paper: „Versorgungsunternehmen, von denen sich viele in ausländischem Besitz befinden und Investorenrechte haben, haben keine Einnahmequellen mehr.“ Ausländische Investoren könnten daher Ansprüche erheben, erwog Hogan Lovells.

Ein anderes Beispiel ergab sich durch General Motors in den USA, das Werk soll jetzt nach Aufforderung des US-Präsidenten Donald Trump Beatmungsgeräte herstellen. „Wenn die Beschlagnahme einer privaten Produktionslinie zur Herstellung medizinischer Geräte über einen ausreichend langen Zeitraum ohne angemessene Entschädigung andauert, könnten Investoren einen Anspruch auf unrechtmäßige indirekte Enteignung haben“, analysierten die Anwälte der Kanzlei Quinn Emanuel.

Auch im Bereich der Mieten gebe es CEO zufolge Möglichkeiten zu ISDS-Klagen. Zahlreiche Länder schützen Mieterinnen und Mieter derzeit vor Delogierung bei krisenbedingten Rückständen. Finanzanwälte beobachten diese Debatten mit Blick auf mögliche Schadenersatzforderungen von privaten im Ausland registrierten Immobilienunternehmen insbesondere in Frankreich und Großbritannien. Die Kanzlei Shearman & Sterling schrieb zum Thema: „Während diese Maßnahmen den Schuldnern helfen, wirken sie sich unweigerlich auf die Gläubiger aus, indem sie Einkommensverluste verursachen.“

Attac: „Klagemöglichkeiten sofort aussetzen“

Aktion gegen ISDS in Wien

Hier müsse man sich deshalb das Gesetz genau ansehen, so die Kanzlei. Wenn die Aussetzung der Zahlungen zum Bankrott eines ausländischen Immobilienunternehmens führe, stelle sich die Frage, ob der Staat eine angemessene finanzielle Unterstützung in Betracht gezogen habe. Im Streitfall könnten Staaten ISDS-Fälle verlieren, wenn die Gerichte feststellen, dass es zu unverhältnismäßigen Verlusten bei den Firmen gekommen sei und eine Regierung nicht genug getan habe, um sie zu unterstützen, so Shearman & Sterling.

Bei den NGOs wie auch bei der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) läuten jedenfalls die Alarmglocken. „Staatliche Maßnahmen zur Begrenzung der negativen Auswirkungen der Pandemie sind vielfältig und von Land zu Land unterschiedlich“, schrieb die UNCTAD in einem Bericht Anfang Mai und warnte vor den teuren Schiedsverfahren. „Daher müssen alle Klagemöglichkeiten von Investoren gegen staatliche Hilfsmaßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie sofort ausgesetzt werden“, heißt es auch von Attac. „Mittelfristig müssen die Regierungen diese Paralleljustiz für Konzerne ersatzlos abschaffen.“


Die Kurzfassung der Studie ist hier zu finden: How Lawyers are Preparing to Sue States over COVID-19 Response Measures