Mercosur: In der politischen Gefriertruhe

MERCOSUR, der gemeinsame Markt in Südamerika, ist in der Krise. Neuer Nationalismus und Neoliberalismus bedrohen die transnationale Kooperation. Und auch die EU muss umdenken, heißt es in der Zeitschrift „Vorwärts“.

Bislang ist es nicht ratifiziert worden, das 2019 unterzeichnete Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem MERCOSUR, dem gemeinsamen Markt von Süd-Lateinamerika. Und das aus sehr unterschiedlichen Gründen. In Europa fürchten die einen weitere Umweltschäden im brasilianischen Amazonasgebiet, die anderen die Konkurrenz für die europäischen Landwirte. So wird der umstrittene Vertrag wohl bis nach den Wahlen in Deutschland und Frankreich in der politischen Gefriertruhe verharren.

Angesichts der aktuellen – in Europa wenig beachteten – Krise im MERCOSUR ist allerdings fraglich, ob es den Handelspartner bis dahin überhaupt noch geben wird. Just zur Feier des 30-jährigen Bestehens des Integrationsraums bezeichnete der Präsident Uruguays die Mitgliedschaft im MERCOSUR als „Ballast“ und schlug eine „Flexibilisierung“ vor. Diese Initiative wird vom großen Nachbarn Brasilien unterstützt und käme einer Auflösung des gemeinsamen Marktes gleich. Was ist da los?

Das ambitionierteste Integrationsprojekt Südamerikas

Der MERCOSUR, dem derzeit ArgentinienBrasilien, Paraguay und Uruguay angehören, ist das ambitionierteste Integrationsprojekt Lateinamerikas: nicht nur mit seinem Ziel einer Zollunion, sondern auch wegen der Schaffung gemeinsamer Institutionen sowie der gemeinschaftlichen Politikgestaltung in Fragen von Bildung, Bürger- und Arbeitnehmerrechten. Es ging also weit über reine Handelspolitik hinaus. Dabei war der Prozess selbstverständlich nicht frei von Turbulenzen. Die Rivalität zwischen den Giganten Brasilien und Argentinien führte immer wieder zu protektionistischen Alleingängen, und die kleinen Partner Uruguay und Paraguay sahen sich oftmals in einer Statistenrolle. Ein Indikator für die nationalistischen Zwischentöne ist, dass eine vollständige Zollunion bislang nicht erreicht wurde. Insgesamt nahm der intraregionale Handel aber sprunghaft zu und machte Ende der 90er Jahre fast ein Drittel des gesamten Handelsvolumens aus. Mit dem Nachfrageboom bei Rohstoffen und der Reprimarisierung der Wirtschaftsmodelle, also der verstärkten Gewinnung und des erhöhten Exports von Rohstoffen, fiel er allerdings auf schmale 12 Prozent aktuell.

Der Ruf nach Reform stieß somit zunächst auf offene Ohren. Der Vorschlag Uruguays, der eng mit Brasilien abgestimmt war, geht jedoch weit über eine Umgestaltung hinaus: Er sieht die Absenkung des gemeinsamen Außenzolls auf null sowie die Öffnung für bilaterale Verhandlungen mit Dritten vor – sprich die Abschaffung von zwei Grundpfeilern des gemeinsamen Marktes. Argentinien, das einzige mitte-links regierte Land im Bund, reagierte spontan mit klarer Ablehnung und bemüht sich seither um Schlichtung und Kompromisse. Paraguay ist gespalten zwischen Solidarität unter Kleinländern einerseits und dem Bewusstsein andererseits, dass Verhandlungen außerhalb der Allianz der Großen kaum Aussicht auf Erfolg haben dürften. Würde der Reformvorschlag so umgesetzt, wäre der MERCOSUR damit am Ende.

Am stärksten von Covid-Krise betroffen

Weltweit zählt der MERCOSUR zu den am stärksten von der Covid-Krise betroffenen Regionen. Auf die vier Mitgliedsländer entfielen bislang 13 Prozent aller Covid-Infektionen, obwohl ihr Anteil an der Weltbevölkerung bei 3 Prozent liegt. Strukturprobleme wie Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Armut wurden durch die Pandemie noch verstärkt. Andere Regionen reagieren auf die Coronakrise mit einer Re-Regionalisierung von Produktionsketten, um Autonomie und Resilienz zu erhöhen. Mit Brasilien und Uruguay optieren zwei sehr unterschiedliche Mitgliedsstaaten des MERCOSUR für mehr nationale Souveränität. Warum?

Beide sind flammende Anhänger der neoliberalen Doktrin vom schlanken Staat und sich selbst regulierenden Märkten. Den komparativen Vorteil der Region sehen sie in den Rohstoffen. Ihr Ziel ist es daher, dem Bergbau und der Agrarwirtschaft größtmögliche Märkte zu eröffnen. Diese Politik verursacht signifikante Umwelt- und Klimaschäden und tauscht mit der Deindustrialisierung zahlreiche formale und qualifizierte Beschäftigungsverhältnisse gegen weniger und schlechter bezahlte Arbeitsplätze. Entsprechend besorgt äußern sich brasilianische und argentinische Industrieverbände über diese Initiative – in Zeiten einer ohnehin extrem schwierigen und unsicheren Konjunktur – und betonen den Vorteil von Handelsverhandlungen, die als Block geführt werden.

Der Ruf nach mehr nationaler Souveränität

Dass sich Gigant Brasilien vom Bruch mit dem Block mehr Beinfreiheit in bilateralen Verhandlungen verspricht, kann man noch nachvollziehen – schließlich ist das Land für alle potenziellen Handelspartner das Filetstück des MERCOSUR. Dass Uruguay – mit einer Einwohnerzahl wie die Stadt Berlin – jedoch meint, China unilateral an den Verhandlungstisch zu bekommen und dort noch einen Stich zu machen, ist erstaunlich. Der Ruf nach mehr nationaler Souveränität, um sich in der Welt zu positionieren, dient eher heimischen Interessen. Lediglich Großbritannien signalisierte Interesse, nachdem Uruguay seine bilaterale Verhandlungsbereitschaft erklärte. Auch dies ist wohl eher als ideologischer Schulterschluss zu werten.

Dabei ist regionale Integration neben global governance heute wichtiger denn je – nicht nur, weil die aktuellen Herausforderungen wie Pandemien und Klimawandel nicht an Landesgrenzen haltmachen. In Zeiten von Protektionismus und Polarisierung stellt eine vertiefte regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit in Lateinamerika den einzigen Gegenentwurf zu einer untergeordneten und wenig nachhaltigen Position im Weltmarkt dar. Regionale Wertschöpfungsketten versprechen den Erhalt und Ausbau qualifizierter Arbeitsplätze und die Perspektive auf eine Diversifizierung des Wirtschaftsmodells. Sie sollten zumindest als parallele Strategie zum dollarbringenden Rohstoffexport erwogen werden. Inmitten der Krise der Demokratie kann politische Kooperation, legitimiert durch parlamentarische und zivilgesellschaftliche Mechanismen, als Stoßdämpfer antidemokratischer Initiativen wirken.

Auflösung statt Vertiefung

Zugegeben, der MERCOSUR ist heute weit entfernt von diesem Idealbild. Unter der turnusmäßigen pro tempore-Präsidentschaft, die Brasilien Anfang Juli übernahm, wurde bereits dem „Reformvorschlag“ stattgegeben, das gemeinsame Institut für Menschenrechtspolitik aufzulösen und die Struktur des Sozialinstituts des MERCOSUR zu verkleinern. Also eher eine Auflösung statt einer Vertiefung des Integrationsprojekts.

Um die Handels- und Wirtschaftsvereinbarungen zu aktualisieren, die mit dem MERCOSUR vor 30 Jahren entstanden, müssen gemeinsame Ziele, Interessen, Allianzen – auch jenseits politischer Affinitäten – und Wirtschaftssektoren identifiziert werden, die vom Regionalhandel profitieren. Angefangen mit der Gesundheitspolitik sollten im MERCOSUR gemeinschaftliche Politikfelder bearbeitet und vertieft werden, z.B. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Menschenrechte und Forschungskooperationen. Diese Rolle sollte vorrangig dem gemeinsamen Parlament PARLASUR zukommen, dessen Mandat und Kompetenzen ausgebaut werden müssen. Und schließlich müssen die bereits existierenden Mechanismen der Bürgerbeteiligung wiederbelebt und ausgebaut werden, um Transparenz und Legitimität herzustellen.

Erhebliche Konsequenzen für soziale Teilhabe

Schon vor der Pandemie – und durch sie noch verstärkt – haben sich weltweit Modelle der Re-Regionalisierung entwickelt. Augenscheinlich folgen Uruguay und Brasilien dagegen dem BREXIT-Modell und dem Narrativ der nationalen Souveränität. Sollte sich ihre Definition von Reform durchsetzen, verlöre die Region endgültig ihre Chance auf die Transformation ihrer Produktionsstrukturen vom Rohstofflieferanten hin zu einem nachhaltigeren Entwicklungsmodell – mit erheblichen Konsequenzen für soziale Inklusion, Beschäftigung, Umwelt und Demokratie. Europa verlöre mit dem MERCOSUR nicht nur seinen Sparringspartner und Absatzmarkt in der Region, sondern auch die Möglichkeit, Zeichen für eine nachhaltigere Freihandelspolitik zu setzen.

Wie Europa ist Lateinamerika eine der wenigen (noch) demokratisch regierten Weltregionen, sprich ein Pfund, mit dem im globalen Systemwettbewerb zu wuchern wäre. Wachsende Ungleichheit lässt aber demokratische Grundüberzeugungen schrumpfen. Politische Phänomene wie das Bolsonaro-Regime sind Symptome dieser Entwicklung und schwerlich mit einem Regierungswechsel zu lösen. Die EU sollte deshalb das Freihandelsabkommen mit dem MERCOSUR in der Gefriertruhe lassen. Stattdessen sollte die EU angesichts der aktuellen Entwicklungen und Krisen seine Beziehungen zu Lateinamerika als „Mittelmacht“ geopolitisch überdenken. Das ursprüngliche Konzept des Assoziierungsabkommens von 1995 sah nicht nur Handel, sondern Kooperationsinstrumente wie einen kontinuierlichen politischen Dialog und technische Zusammenarbeit vor. Eine Rückkehr hierzu sollte Baustein einer Post-Covid-Strategie sein, mit der den multiplen globalen Krisen zu begegnen wäre. China ist in weiten Teilen Lateinamerikas bereits führender Handelspartner, Kreditgeber und Direktinvestor, und visiert sicherlich bereits bilaterale Verhandlungen mit Brasilien an. Der rein handelspolitische Ansatz im EU-MERCOSUR-Abkommen greift indes viel zu kurz. Die Länder des MERCOSUR, die sich in ihrem Integrationsprozess durchaus auch an Europa orientiert haben, brauchen jetzt umfassende Unterstützung und Kooperation bei der Vertiefung ihres Projekts.


Dieser Text erschien zuerst im ipg-journal