„G20 ersatzlos abschaffen“

 

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Jean Ziegler ist wütend. Der Soziologe, ehemalige UN-Diplomat und Autor wirft den G20 vor, sie hätten nichts erreicht. Statt dessen fordert er im Interview mit der Tagesschau eine deutliche Stärkung der UN und Sofortmaßnahmen für die ärmsten Staaten – viele könnten umgehend beschlossen werden.

tagesschau.de: Herr Ziegler, die G20 werden sich in wenigen Tagen in Hamburg treffen. Was halten Sie von diesem System? Ist das gerecht?

Jean Ziegler: Es ist eine total illegitime und illegale Zusammenkunft. Es gibt eine Organisation, die Vereinten Nationen, die das öffentliche Interesse der Völker wahrnimmt. Für eine Herrschaftszusammenkunft von einigen mächtigen Staatschefs, die 85 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrollieren, die hinter 20.000 Polizisten hinter Stacheldraht zusammenkommen in der Weltstadt Hamburg, gibt es keine Legitimation. Sie fassen Beschlüsse, über deren Ausführung keine Kontrolle besteht. Und das geht nicht. Das ist gegen den Willen dessen, was die Gründer der Vereinten Nationen gewollt haben. Und dieser G20-Gipfel unterminiert die Demokratie.

tagesschau.de: Am Ende der Gipfel gibt es ja immer dieses schöne Foto, alle stehen zusammen. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das sehen? Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Ziegler: Das ist zwar eine idyllische Postkarte, aber sie erweckt in mir Zorn. Das sind die Menschen, die die Strukturreformen der kannibalischen Weltordnung durchführen müssten. Ich gebe ein Beispiel: Alle fünf Sekunden verhungert nach UN-Statistik ein Kind unter zehn Jahren. Ein Kind, das jetzt, während wir reden, an Hunger stirbt, wird ermordet. Und dieses tägliche Massaker des Hungers ist das schlimmste unserer Zeit. Wenn ich da eine Postkarte sehe mit lächelnden Staatschefs am Rande dieser Massengräber, die man ja nicht sieht auf dem Foto, dann kommt in mir Zorn hoch.

tagesschau.de: Die G20-Treffen gibt es ja seit 1999. Erst waren es die Finanzminister, später die Staats- und Regierungschefs. Was haben die G20 erreicht?

Ziegler: Ich glaube, sie haben nichts erreicht. Immer war das Schlusskommuniqué das schöne Postkartenfoto am Ende. Aber dann gab es keine Kontrolle über die Beschlüsse, die da verkündet wurden. Es wird im Schlusskommuniqué nichts über die Grundsatzreformen stehen: Verbot der Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel, Totalentschuldung der ärmsten Länder dieser Welt, Ende des Landraubes in Afrika. All diese Grundsatzreformen, die dringend nötig sind und die rechtsstaatlich, demokratisch durchgesetzt werden könnten. Die morgen früh Millionen von Menschen das Leben retten könnten.

Solange diese Elementarreformen nicht durchgesetzt sind, wird weiter gestorben in immer größerer Zahl. Und deshalb halte ich von diesem G20-Gipfel überhaupt nichts. Das ist eine Nebelwand, ein Herrschaftsinstrument, das zur Lösung internationaler Probleme überhaupt keinen positiven Beitrag leistet.

tagesschau.de: Die Bundesregierung sagt: Wir haben viel Geld in die Märkte investiert, damit sie sich nach der Finanzkrise beruhigen. Sie sagt, wir kontrollieren die Banken besser. Wir kontrollieren die Hedgefonds besser. Was ist da Ihre Antwort?

Ziegler: Nein. Herr Schäuble, Finanzminister der drittgrößten Finanzmacht der Welt immerhin, hat gesagt: Entschuldung kann nicht sein. Entschuldung für die 50 ärmsten Länder dieser Welt wird nicht gemacht. Obschon diese Länder ohne Entschuldung weder in Schulen, noch in Spitäler, noch in die Landwirtschaft investieren können. Das Elend ist also zementiert, wenn keine Entschuldung kommt.

Und Schäuble argumentiert und sagt: Das ist das Gesetz des Marktes, die Eigenverantwortung des Marktteilnehmers, und der Markt befiehlt. Das ist eine mörderische Aussage. Sie können Morgen früh Jesus Christus als Präsident von Mali oder Benin oder Senegal ernennen. Er wird kein einziges Kind retten können, weil die Auslandsschuld diese Länder erdrückt. Was Herr Schäuble sagt, ist eine Aussage, die eines deutschen Ministers nicht würdig ist.

tagesschau.de: Wenn ich sage, ich finde die Weltordnung ungerecht: Was kann ich als Einzelner tun?

Ziegler: Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Das Grundgesetz gibt uns alle Waffen in die Hand, um diese kannibalische Weltordnung zu stürzen. Herr Schäuble ist ja nicht vom Himmel gefallen. Wenn er sagt, eine Entschuldung der ärmsten Länder ist unmöglich, weil der Markt das nicht will, dann stimmt das nicht. Der kann abgewählt werden. Seine Partei kann abgewählt werden. Morgen früh kann die Börsenspekulation auf Nahrungsmittel vom Bundestag gelähmt werden. Morgen früh sind dann Millionen von Menschen vor dem Hungertod gerettet. Alles hängt von uns ab. Deshalb sollten wir lernen, unsere unglaublichen Freiheitsrechte, die uns die Verfassung, das Grundgesetz gibt, zu gebrauchen.

tagesschau.de: Es gibt hier in Hamburg die Befürchtung, dass wir viel Gewalt sehen werden während des G20-Gipfels. Wie sehen Sie das?

Ziegler: Die schlimmste Gewalt ist, dass alle fünf Sekunden auf dieser Welt, die vor Reichtum überquillt, ein Kind unter zehn Jahren verhungert. Dass in Syrien seit mehr als sechs Jahren jetzt Hunderttausende von Menschen gefoltert, bombardiert, getötet werden. Menschen wie Sie und ich. Dass dieses fürchterliche Blutbad weitergeht. Das ist das erschreckendste Elend, das auf diesem Planeten in die Augen springt. Der friedliche, natürliche Widerstand kann begleitet werden von Gewaltausbrüchen in Hamburg. Das ist verantwortungslos. Das ist auch politisch falsch und moralisch total verantwortungslos. Und es ist vor allem unnötig.

Das Gespräch führte Gabor Halasz, NDR

Zur Person: Jean Ziegler

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Jean Ziegler lehrte bis 2002 Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris. Er war von 2000 bis 2008 erster UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Heute gehört er dem beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats an. Ziegler hat sich in vielen Schriften kritisch mit der Globalisierung auseinandergesetzt.