Wie die „schwarze Null“ uns allen schadet

»Schwarze Null«, Schuldenbremse und Fiskalpakt gelten gerade in Deutschland als der finanzpolitischen Weisheit letzter Schluss. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich jedoch ein anderes Bild: Sie bremsen Investitionen aus und befördern Privatisierung. Zu diesem Schluss kommt eine Analyse der Gewerkschaft Ver.di, veröffentlicht von Blickpunkt WiSo.

Und sollte CETA für immer Bestand haben, wird es nicht mehr möglich sein, diese Privatisierungen rückgängig zu machen.

Die »Schwarze Null« – Fluch oder Segen?

Von Dierk Hirschel, Ralf Krämer, Patrick Schreiner

Für weite Teile von Politik und Öffentlichkeit gelten ausgeglichene öffentliche Haushalte als vernünftig. Und als haushaltspolitisch kompetent gilt, wer die »schwarze Null« auch tatsächlich erreicht. Nicht zuletzt die schwarz-rote Bundesregierung brüstet sich seit einiger Zeit mit diesem »Erfolg«. Tatsächlich verzeichnen der Bund wie auch die öffentlichen Haushalte in Summe seit einigen Jahren Überschüsse. Der Bund und viele Länder machen keine neuen Schulden mehr. Der kräftige Aufschwung lässt die Steuereinnahmen sprudeln, die gute Entwicklung am Arbeitsmarkt senkt die Ausgaben für die Unterstützung von Erwerbslosen.

Der neue Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) hat sein Haus also in »goldenen Zeiten« übernommen. Er kann, wenn wirtschaftlich nichts schiefgeht, in den nächsten vier Jahren fast 60 Milliarden zusätzlich verteilen, ohne dafür Kredite aufnehmen zu müssen. Und das will er auch tun: Die Bundesregierung plant einerseits, die »schwarze Null« beizubehalten, und andererseits, für wichtige Zukunftsaufgaben mehr Geld bereitzustellen. So soll der Bundeshaushalt ausgeglichen bleiben. Die gesamtstaatliche Schuldenquote soll 2019 unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sinken. Zugleich werden etwa die Finanzmittel für frühkindliche Bildung um 7,5 Milliarden Euro erhöht. Kindergeld und Kinderfreibetrag steigen im Umfang von rund fünf Milliarden Euro. Das Bafög wird angehoben und die berufliche Bildung gestärkt. Der soziale Wohnungsbau wird mit zwei Milliarden Euro gefördert. Für einen sozialen Arbeitsmarkt plant der Finanzminister weitere vier Milliarden Euro ein. Zwischen 2018 und 2022 soll insgesamt fast ein Viertel mehr investiert werden als von der vorherigen Bundesregierung.

Was auf den ersten Blick sinnvoll und vernünftig erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen aber als völlig unzureichend. Die geplanten Mehrausgaben werden bei Weitem nicht genügen, um die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedarfe zu decken. Denn Deutschland hat Jahrzehnte der Kürzungspolitik, des Personalabbaus im öffentlichen Dienst und der unzureichenden öffentlichen Investitionen hinter sich.

Im Ergebnis dessen ist beispielsweise unsere Verkehrsinfrastruktur marode. Ein Fünftel der Autobahnstrecken und zwei Fünftel der Bundesfernstraßen müssen saniert werden. Jede dritte Eisenbahnbrücke hat bereits über 100 Jahre auf dem Buckel. Großen Investitionsbedarf gibt es auch bei Breitband und Energieversorgung. Es fehlt ferner an Kita-Plätzen und Kita-Personal. Schulgebäude sind in die Jahre gekommen, so manches Schulklo ist unbenutzbar. Viele öffentliche Verwaltungsgebäude verfallen. In Krankenhäusern gibt es nicht nur einen beträchtlichen Investitionsstau, sondern es fehlt an Personal – mit der Folge unzumutbarer Arbeitsverdichtung und Gefährdungen von Patientinnen und Patienten. Gerade in Groß- und Universitätsstädten mangelt es an bezahlbarem Wohnraum, insbesondere an Sozialwohnungen. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Deutschland hat also einen großen Bedarf an zusätzlichen öffentlichen Ausgaben und Investitionen. Vor diesem Hintergrund an der »schwarzen Null« festzuhalten, ist ökonomisch unvernünftig und sozial verantwortungslos. Dies gilt umso mehr, als die Bundesregierung auf ihre Staatsanleihen derzeit historisch niedrige Zinsen bezahlen muss. Es war nie günstiger als heute, Kredite aufzunehmen, um damit die dringend notwendigen Zukunftsinvestitionen zu finanzieren.

Ökonomisch unvernünftig und sozial verantwortungslos ist es angesichts dieser enormen Investitions- und Ausgabebedarfe aber auch, die Steuern zu senken. Genau das plant die Bundesregierung: Sie will den Einstieg in den Ausstieg aus dem Solidaritätszuschlag, wovon letztlich ganz überwiegend die oberen zehn Prozent profitieren werden. Und sie reduziert damit ihren ohnehin unzureichenden finanziellen Handlungsspielraum noch weiter.

Es gibt nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit, öffentliche Investitionen auszuweiten. Als Argument gegen eine solche Politik wird häufig vorgebracht, angesichts mittlerweile erreichter Kapazitätsgrenzen würden mehr staatliche Ausgaben lediglich die Preise erhöhen. Richtig ist daran lediglich, dass nicht alles, was wünschenswert wäre, sofort gemacht werden kann. Denn häufig verhindern Kapazitätsengpässe eine schnelle Umsetzung von Investitionen. So steigen in der Baubranche aufgrund der starken Nachfrage die Preise für Zement, Dämmmaterialien und Fenster. Allerdings: Sobald absehbar ist, dass die öffentliche Hand dauerhaft einen höheren Investitions- und Ausgabenpfad einschlägt, werden Handwerk, Bauunternehmen und Zulieferer ihre Produktionskapazitäten ausbauen.

Möglichkeiten und Grenzen der Haushaltspolitik

Hinter dem Streben nach der »schwarzen Null« und nach einer Begrenzung der Staatsverschuldung steht der Glaube, dass ein Staat seine Einnahmen und Ausgaben unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung planen und vornehmen könne. Oft wird dies mit Verweis auf Privathaushalte (etwa die berühmte »schwäbische Hausfrau«) auch genau so formuliert: Ein Privathaushalt könne auch nicht mehr ausgeben, als er einnehme, heißt es dann. Ergo gelte dies auch für die Finanzen von Bund, Ländern und Kommunen. Sie sollten ihre Ausgaben so planen, dass der Haushalt keine Defizite verzeichnet – die Ausgaben sich also den Einnahmen anpassen.

Diese Sichtweise führt aus mehreren Gründen in die Irre. So hängen Einnahmen und Ausgaben eines öffentlichen Haushalts unmittelbar von der konjunkturellen Entwicklung ab. Sie sind keineswegs sicher planbar oder klar vorhersehbar. In Phasen eines wirtschaftlichen Aufschwungs sind die staatlichen Einnahmen hoch: die Steuereinnahmen steigen, da die Löhne steigen und Unternehmen hohe Gewinne verbuchen. Zugleich steigen bestimmte staatliche Ausgaben nur noch verhalten, oder sie gehen sogar zurück. Dies betrifft insbesondere die Kosten für soziale Absicherung bei Erwerbslosigkeit, die in günstigen wirtschaftlichen Phasen zurückgehen. Genau umgekehrt verhält es sich in wirtschaftlichen Krisen: Hier sinken die Steuereinnahmen, während die Ausgaben steigen.

Es ist für einen Staat nicht möglich, sinkende Einnahmen oder steigende Ausgaben dadurch auszugleichen, dass er seine Einnahmen oder Ausgaben zeitnah an anderer Stelle erhöht oder senkt. Finanzflüsse beruhen auf gesetzlichen oder vertraglichen Regelungen und Verpflichtungen, die allenfalls mittelfristig, in vielen Fällen aber gar nicht geändert werden können. So stellen beispielsweise die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung Rechtsansprüche der Betroffenen dar, die diese durch Beitragszahlungen erworben haben. Sie können daher nicht beliebig gekürzt werden. Und wenn sich eine Kommune vertraglich verpflichtet hat, einem Unternehmen für den Bau einer Kita Geld zu bezahlen, so hat sie diese Verpflichtung unabhängig von der Konjunkturlage zu erfüllen.

Zu diesen rechtlichen Gründen kommen ökonomische: Ein Staat ist kein Privathaushalt. Kürzt die »schwäbische Hausfrau« oder ein Unternehmen die eigenen Ausgaben, so entgehen anderen Marktakteuren in gleicher Höhe Einnahmen. Denn die Ausgaben des einen sind die Einnahmen des anderen. Das Ausmaß dessen ist bei einzelnen Privathaushalten oder Unternehmen aber begrenzt. Der Staat hingegen ist ein sehr viel größerer und wichtigerer Spieler. Wenn er zum falschen Zeitpunkt kürzt, verlieren Firmen Aufträge und drosseln die Produktion. Wenn staatliche Transfers gekürzt werden, haben Arbeitslose und Bedürftige weniger Geld in der Tasche, das sie ausgeben können. Im Abschwung verstärkt dies die Talfahrt. Dann sinken Wachstum und Steuereinnahmen, Arbeitslosigkeit und Schulden steigen.

Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass der Staat – anders als die »schwäbische Hausfrau« oder ein einzelnes Unternehmen – durch eine Ausweitung seiner Ausgaben wichtige Nachfrage-Impulse setzen und die wirtschaftliche Entwicklung stärken kann. Bei öffentlichen Investitionen und öffentlicher Beschäftigung ist dieser Effekt besonders groß.

Schulden begrenzen mit Schuldenbremse und Fiskalpakt?

Obwohl also vieles gegen abstrakte Regeln zur Schuldenbegrenzung spricht, ist das politische Ziel, Schulden auszubremsen, längst auch rechtlich festgeschrieben – und zwar mehrfach. Seit 2009 ist die so genannte Schuldenbremse im Grundgesetz verankert. Sie schreibt vor, dass der Bund sich ab 2016 jährlich nur noch mit 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) strukturell neu verschulden darf. 2017 entsprach dies 11,4 Mrd. Euro. Die deutschen Bundesländer dürfen ab 2020 gar keine strukturelle (also um konjunkturelle Schwankungen bereinigte) Neuverschuldung mehr eingehen. Und seit 2013 gibt es auf europäischer Ebene eine vergleichbare Regelung, mit der im Zuge der Eurokrise ältere Regelungen des Maastrichter Vertrages verschärft wurden. Dieser so genannte Europäische Fiskalpakt wurde von 23 EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet, darunter auch Deutschland. Er schreibt vor, dass die strukturelle Neuverschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts jährlich maximal 0,5 Prozent des BIP betragen darf. Letztes Jahr entsprach dies 16,3 Mrd. Euro. Zum Vergleich: In jenem Jahr betrug der Investitionsstau alleine bei den Kommunen 126 Mrd. Euro. Liegt der Schuldenstand erheblich unter 60 Prozent des BIP, was in Deutschland voraussichtlich ab 2019 der Fall sein wird, so darf die jährliche strukturelle Neuverschuldung maximal ein Prozent betragen.

Sowohl Schuldenbremse als auch Fiskalpakt sehen Ausnahmen etwa bei Naturkatastrophen und konjunkturellen Abschwüngen vor. Allerdings ist es schlicht unmöglich, zwischen einer allgemeinen (»strukturellen«) und einer konjunkturellen Verschuldung sauber zu unterscheiden. Keines der verfügbaren Verfahren ist dazu verlässlich in der Lage. Damit wirken Schuldenbremse und Fiskalpakt krisenverschärfend.

»Schwarze Null«, Schuldenbremse und Fiskalpakt sind aber auch aus sehr grundsätzlichen Überlegungen schädlich: Mit ihnen werden – für alle verbindlich – haushaltspolitische Ziele stärker gewichtet als wirtschafts- und sozialpolitische Ziele. Und das, obwohl sich das Streben nach ausgeglichenen öffentlichen Haushalten schon seit vielen Jahren negativ auf öffentliche Investitionen auswirkt. Für künftige Generationen werden sich jedenfalls eine verfallende Infrastruktur und ein unzureichend finanziertes Bildungs- und Gesundheitswesen viel negativer auswirken als höhere Staatsschulden.

Wie die »schwarze Null« öffentliche Ausgaben und Investitionen bremst …

Öffentliche Investitionen sind für eine Gesellschaft von enormer sozialer und wirtschaftlicher Bedeutung. Dies gilt zum einen für Investitionen im engeren (volkswirtschaftlichen) Sinne. Gemeint sind damit insbesondere Investitionen »in Beton«, also in Infrastruktur wie Verwaltungs- und Schulgebäude, Bauten für Feuerwehr und Polizei, digitale Netze, Sportstätten, Theater, Straßen, Brücken oder Schienen. Von großer Bedeutung sind aber auch Investitionen in einem weiteren Sinne. Darunter fallen alle öffentlichen Ausgaben, mit denen eine Gesellschaft die Weichen für ihre Zukunft stellt – also etwa Ausgaben für Bildung und Forschung, Ver- und Entsorgung sowie Gesundheit und Pflege.

Ohne öffentliche Investitionen wären weder die Produktion von Waren und Dienstleistungen noch ein soziales und kulturelles Miteinander möglich. Und nicht zuletzt hemmen ausbleibende oder unzureichende Investitionen die wirtschaftliche Entwicklung. Denn Unternehmen sind auf öffentliche Infrastrukturen und Dienstleistungen angewiesen: Sie brauchen beispielsweise Energie, Wasser, Mobilitätsangebote und Verkehrswege, um überhaupt produzieren zu können.

Nun ist kaum ein Haushaltsposten so einfach zu kürzen wie der für öffentliche Investitionen. Das Bemühen um ausgeglichene Haushalte (oder gar Haushaltsüberschüsse) hat vor diesem Hintergrund dazu geführt, dass gerade hier massiv gekürzt wurde. Zusätzlich befeuert wurde diese Entwicklung noch dadurch, dass man insbesondere in den 2000er Jahren wiederholt und umfangreich Steuern gesenkt hat, wovon vorwiegend Unternehmen sowie Menschen mit hohen Einkommen und Vermögen profitierten. Die daraus resultierenden Steuerausfälle (in den frühen 2010er Jahren bis zu 55 Mrd. Euro jährlich) belasteten die öffentlichen Haushalte beträchtlich, und sie tun es bis heute.

In den 1970er Jahren betrugen die öffentlichen Investitionen im engeren Sinne in Deutschland noch vier bis fünf Prozent des BIP pro Jahr. Seit den frühen 2000er Jahren liegt dieser Wert nur noch bei knapp zwei Prozent.

Besonders ausgeprägt ist die Investitionsschwäche bei den Kommunen. Sie verzeichnen seit dem Jahr 2003 sogar durchgängig negative Nettoinvestitionen – sie investieren also weniger, als ihre Investitionsgüter durch Verschleiß an Wert verlieren. Die kfw-Bank bezifferte 2017 den Investitionsstau alleine bei den Kommunen auf 126 Mrd. Euro.

Dem Staat eine Schuldenfinanzierung von Investitionen zu verbieten, ist auch ökonomisch unsinnig. Auch die »schwäbische Hausfrau« wird etwa das Eigenheim nicht aus der Portokasse finanzieren, sondern dafür einen Kredit aufnehmen. Und ein Unternehmen verschuldet sich, wenn es in seine Zukunft investiert. Das Eigenheim erspart der »schwäbischen Hausfrau« zukünftige Mietzahlungen, und das Unternehmen wird – eine kluge Investitionsentscheidung vorausgesetzt – zukünftig zusätzliche Gewinne einfahren. Auch für den Staat sind die Renditen von Zukunftsinvestitionen höher als ihre Kosten. Angesichts von niedrigen Zinsen und hohen Bedarfen wären gerade jetzt solche investiven Mehrausgaben notwendig und sinnvoll.

Aber nicht nur die Investitionen im engeren Sinne, sondern auch die Staatsausgaben insgesamt wurden in den letzten Jahrzehnten ausgebremst. Besonders ausgeprägt war dies in den 2000er Jahren: Damals gingen die öffentlichen Ausgaben preisbereinigt sogar zurück. Dies war in keinem anderen Land der Europäischen Union der Fall. Von den damit einhergehenden Kürzungen blieb kaum ein Aufgabenbereich ausgenommen. Wären die öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung 2017 so hoch gewesen wie im Jahr 2000, hätte der Sozialstaat über 100 Mrd. Euro mehr zur Verfügung gehabt.

Nicht zuletzt war davon das Personal im öffentlichen Dienst betroffen. Alleine zwischen 1991 und 2008 ging der Personalbestand um etwa ein Drittel zurück. Dies ist teilweise auf die Bewältigung der Wiedervereinigung und auf Privatisierungen sowie Auslagerungen zurückzuführen – aber eben nur teilweise. Der öffentliche Personalabbau bedeutete nicht nur Personalmangel und wachsenden Arbeitsstress für die Beschäftigten, sondern wirkte sich auch unmittelbar auf die öffentlichen Investitionen aus: Damit diese umgesetzt werden können, braucht es schließlich entsprechendes Personal in der öffentlichen Verwaltung. Seit 1991 wurden aber in den Kommunalverwaltungen mehr als 40 Prozent der Stellen abgebaut, die sich mit der Planung und Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen befassen.

Die Haushaltspolitik der »schwarzen Null« hat damit direkt und indirekt zu unzureichenden öffentlichen Ausgaben und Investitionen beigetragen. Ohne ein grundlegendes politisches Umdenken werden sie dies auch weiterhin tun – insbesondere, wenn sich die aktuell vergleichsweise günstige Konjunkturlage verschlechtern sollte und die derzeit gute Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte in ihr Gegenteil umschlägt.

Übrigens: Die skandinavischen Länder zeigen, dass es auch anders geht. Hier liegen die Steuern und Abgaben deutlich höher als in Deutschland. Dies ist gesellschaftlich akzeptiert, weil so ein gut ausgebauter und leistungsfähiger öffentlicher Sektor finanziert werden kann. Kein Wunder, dass diese Länder bei internationalen Vergleichen – etwa beim Bildungssystem – immer wieder hervorragend abschneiden.

… und Privatisierungen befördert

Noch in den 1980er Jahren besaß die öffentliche Hand fast ein Fünftel des Eigenkapitals aller deutschen Kapitalgesellschaften. Seitdem haben Bund, Länder und Kommunen zahlreiche öffentlichen Unternehmen privatisiert, Beteiligungen verkauft und Aufgaben ausgelagert. Davon betroffen waren nicht nur Industriebetriebe, Banken und Versicherungen, sondern in zunehmendem Maße auch die öffentliche Verwaltung und Daseinsvorsorge – etwa in den Bereichen Ver- und Entsorgung, öffentlicher Verkehr, Krankenhäuser, Pflegeheime und Postdienste. Private übernahmen das Eigentum an den profitträchtigen Unternehmen, die nicht selten durch teure öffentliche Subventionen noch rentabler gemacht wurden und werden. Ganze Sektoren hat man auf diese Weise für die Privatwirtschaft geöffnet. Ein zentraler Hintergrund dieser Privatisierungen war und ist, neue Investitionsmöglichkeiten und Felder für die Erwirtschaftung von Profiten für privates Kapital zu schaffen.

So sind öffentliche Beteiligungen beispielsweise an Krankenhäusern deutlich zurückgegangen. Die Zahl öffentlicher Krankenhäuser sank von 1991 bis 2016 von 1.110 auf 570, ein Minus von fast 50 Prozent. Hingegen stieg die Zahl privater Krankenhäuser von 358 auf 707. Dieser Privatisierungstrend ist nach wie vor ungebrochen.

Besonders verheerend waren die Privatisierungen öffentlicher Wohnungsbestände. Zahlreiche Kommunen und Länder, aber auch Einrichtungen des Bundes haben in großem Stil Wohnungen verkauft. So konnten sie kurzfristig Löcher in den öffentlichen Haushalten stopfen. Heute und in Zukunft fehlen aber wohnungspolitische Steuerungsmöglichkeiten. Durch Spekulation und einen unzureichenden Neubau von Mietwohnungen herrscht gerade in Groß- und Universitätsstädten ein beträchtlicher Mangel an bezahlbarem Wohnraum im unteren und mittleren Preissegment. Die Immobilienpreise und Mieten explodieren, Menschen werden aus ihrem langjährigen Wohnumfeld verdrängt. Und die öffentliche Hand ist mit steigenden Kosten für Wohngeld und Kosten der Unterkunft im Rahmen von Hartz IV konfrontiert.

Hinter solchen Privatisierungen stand und steht zum einen eine überzogene Marktgläubigkeit und generelle Skepsis gegenüber wirtschaftlichen Aktivitäten der öffentlichen Hand. Zum anderen aber haben die Haushaltspolitik der »schwarzen Null«, Schuldenbremse und Fiskalpakt Privatisierungen befördert. Denn der Verkauf des Tafelsilbers von Bund, Ländern und Kommunen spült Geld in deren Kassen. Dass Privatisierungen für die öffentlichen Haushalte und/oder die Verbraucher mittel- und langfristig oft zu steigenden Kosten führen, wird dabei gerne verdrängt. Auch dass sich in der Regel die Arbeitsbedingungen und Entgelte der betroffenen Beschäftigten verschlechtern, wird meist ausgeblendet. Und nicht zuletzt wird ignoriert, dass öffentliche Unternehmen oft Einnahmen für die öffentlichen Haushalte erwirtschaften, die nach der Privatisierung entfallen. Bund, Länder und Kommunen erzielen so kurzfristige Privatisierungserlöse, verlieren langfristig aber sowohl Handlungsmöglichkeiten als auch stetig fließende Einnahmen aus Beteiligungen.

Neben diesen direkten Privatisierungen hat seit den 1990er Jahren auch eine andere Form der Privatisierung an Bedeutung gewonnen – so genannte Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP). Auch hier spielt die »schwarze Null« eine nicht unwesentliche Rolle. Bei ÖPP schließt ein öffentlicher Auftraggeber einen Vertrag mit einem privaten »Partner«. Der Private verpflichtet sich, für meist 20 oder 30 Jahre die Errichtung, den Betrieb und meist auch die Finanzierung einer Infrastruktur zu übernehmen, etwa einer Straße oder eines Gebäudes. Dafür erhält er im Gegenzug Entgelte, die seine Kosten decken und Profite gewährleisten sollen. Die Rechnungshöfe von Bund, Ländern und EU üben regelmäßig Kritik an der mangelnden Wirtschaftlichkeit von ÖPP. Auch sind ÖPP hochgradig undemokratisch und intransparent, da die Verträge geheim und politische Einflussmöglichkeiten gering sind.

So hat beispielsweise der Landkreis Offenbach 2005 seine Schulen im Rahmen von zwei ÖPP-Projekten sanieren und für 15 Jahre von zwei Firmenkonsortien betreiben lassen. Während die Gewerkschaften sich von Beginn an kritisch gegen das Vorhaben gewandt hatten, zog der Hessische Rechnungshof 2008 zunächst ein positives Zwischenfazit. Spätestens in den frühen 2010er Jahren aber erwiesen sich Bedenken als berechtigt: Die Kosten explodierten geradezu und machten alle vorherigen Kalkulationen zunichte.

Trotz aller Mängel und Kritik ist der Trend zu dieser indirekten Form der Privatisierung ungebrochen. Es sind im Wesentlichen zwei Aspekte, die ÖPP im Zeitalter der »schwarzen Null« attraktiv machen: Erstens sind ÖPP geeignet, Verschuldung zu verstecken. Denn obwohl die öffentliche Hand sich mit ÖPP auf Jahrzehnte hinaus zu Zahlungen verpflichtet, wird dies unter bestimmten Umständen (insbesondere mit Blick auf die Schuldenbremse) nicht als Staatsverschuldung gewertet. Zweitens lässt sich auf diese Weise Geld für Infrastrukturinvestitionen aufbringen, die sonst wohl in vielen Fällen aus Geld- oder Personalmangel unterblieben wären.

Es ist unter ÖPP-Befürwortern fast schon zum geflügelten Wort geworden, dass ÖPP »privates Kapital für öffentliche Infrastruktur« nutzbar machen sollen. Zwar ließe sich dieses private Kapital auch einfach am Kapitalmarkt aufnehmen, wie Staaten es seit Jahrhunderten machen. Insofern gäbe es durchaus Alternativen. Dieser kostengünstigere und demokratischere Weg aber wurde durch Schuldenbremse und Fiskalpakt verbaut.

Das Öffentliche stärken!

Hinter den bis hierhin geschilderten Entwicklungen verbirgt sich auch Strategie und Absicht. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger, Mitglied im Wirtschafts-Sachverständigenrat der Bundesregierung, schrieb 2008:

»Wenn man die Rolle des Staates beschneiden möchte, muss man ihm seine finanziellen Ressourcen entziehen. Politökonomisch lässt sich dies am besten in einem zweistufigen Prozess bewerkstelligen. In einem ersten Schritt werden umfangreiche Steuerentlastungen vorgenommen. Da eine solche Maßnahme höchst populär ist, stellen sich hierfür keine größeren politischen Hindernisse. Bei unveränderten Ausgaben ergibt sich hierdurch eine steigende Neuverschuldung. Wenn man gleichzeitig in der Bevölkerung eine hohe Angst vor der Staatsverschuldung schürt, wird alsbald ein hoher Druck für Ausgabenkürzungen geschaffen.«

Eine solche Politik nutzt Kapitalbesitzenden, Bevölkerungsgruppen mit großen Einkommen und Vermögen sowie Konzernen und Finanzanlegern. Von einer solchen Politik profitieren folglich die, deren Steuern gesenkt werden. Es profitieren die, die sich privatisierte Unternehmen und Aufgaben profitträchtig unter den Nagel reißen. Es profitieren die, die sich ehemals staatliche Leistungen für teures Geld am Markt einkaufen können. Das Nachsehen aber haben alle, die auf starke öffentliche Dienstleistungen und Infrastrukturen angewiesen sind: Abhängig Beschäftigte, Erwerbslose, Familien, Mieterinnen, Mieter und viele mehr.

Auch vor diesem Hintergrund ist das Zeitalter von Schuldenbremse, Fiskalpakt und Privatisierungen zugleich das Zeitalter der Missachtung des Öffentlichen. Nicht Gemeinwohlorientierung und sozialer Zusammenhalt, sondern Magerstaat, öffentliche Nullverschuldung und entgrenzte Märkte sind zum Leitbild geworden. Im Ergebnis hat sich der Staat aus vielen wichtigen öffentlichen Aufgaben zurückgezogen. Die öffentlichen Investitionen liegen seit vielen Jahren auf einem völlig unzureichenden Niveau. Und nur in wenigen Industriestaaten sind anteilig weniger Menschen im Öffentlichen Dienst beschäftigt als in Deutschland.

Ein »Weiter so!« darf es nicht geben. Wir stehen in den Bereichen Gesundheit, Pflege, Bildung, Wohnen, Digitalisierung, Energie und Verkehr vor immensen Aufgaben. Zudem müssen wir einen beträchtlichen Investitionsstau insbesondere bei den Kommunen abbauen. All dies verlangt in Zukunft nicht niedrigere, sondern höhere Staatsausgaben. Die Leistungen von Bund, Ländern, Kommunen und öffentlichen Unternehmen müssen ausgeweitet werden. Und wir brauchen einen Öffentlichen Dienst, der personell ausreichend ausgestattet ist – mit qualifizierten und gut bezahlten Beschäftigten.

Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt: Öffentlich-Private Partnerschaften und andere Formen der Privatisierung können das Problem der unzureichenden Finanzlage von Bund, Ländern und Kommunen nicht lösen. Solche Experimente haben sich als Irrwege entpuppt. Erhoffte Effizienzgewinne sind nicht eingetreten. Verkaufserlöse waren allenfalls ein kurzes Strohfeuer. Zudem haben Privatisierungen demokratische Einflussmöglichkeiten, die Handlungsfähigkeit von Politik und die Transparenz öffentlicher Haushalte reduziert.

Auch vor diesem Hintergrund gilt es, das Öffentliche zu stärken. Öffentliche Haushalte sind endlich ausreichend zu finanzieren und wieder handlungsfähig zu machen. Hierzu brauchen wir zum einen ein gerechteres Steuersystem und einen besseren Steuervollzug. Zum anderen brauchen wir eine Abkehr vom Dogma der »schwarzen Null«.

Ver.di fordert eine breitere staatliche Einnahmebasis durch eine höhere Besteuerung hoher Einkommen, Vermögen, Erbschaften und Unternehmensgewinne. Gemeinsam mit den anderen DGB-Gewerkschaften haben wir 2017 ein ▸durchgerechnetes Steuerkonzept vorgelegt, das funktioniert: Es sieht beispielsweise bei der Einkommensteuer 60 Milliarden Euro höhere öffentliche Einnahmen im Jahr vor. Vor allem die Kommunen würden profitieren.

Wer die Schulden ernsthaft reduzieren will, kommt nicht daran vorbei, auch die Vermögenden in die Pflicht zu nehmen. Denn Schulden stehen immer Vermögen gegenüber. Wo Schulden abgebaut werden, müssen daher auch Vermögen reduziert werden. Auch deshalb brauchen wir hierzulande und europaweit Abgaben und Steuern auf große Vermögen.

Notwendig ist aber auch ein ideologiefreier Umgang mit dem Thema Neuverschuldung. Sie darf kein Tabu mehr sein. Kurzfristig sind die trotz Schuldenbremse und Fiskalpakt bestehenden Verschuldungsspielräume auszuschöpfen. Auf diese Weise lassen sich Finanzmittel für dringend benötigte Investitionen aufbringen: Bei Bund und Ländern zusammen beträgt der trotz Schuldenbremse bestehende Spielraum für die Jahre 2018 bis 2021 insgesamt über 110 Mrd. Euro. Und der Fiskalpakt belässt sogar noch einen größeren Spielraum. Die laut schwarz-rotem Koalitionsvertrag geplanten zusätzlichen Ausgaben und Investitionen sind dabei schon berücksichtigt. Finanzielle Spielräume bestehen aber auch auf Seiten der Kommunen: Sie verzeichnen seit 2015 insgesamt wieder Überschüsse.

Mittelfristig wird selbst das nicht ausreichen. Deshalb sind Schuldenbremse sowie Fiskalpakt zumindest flexibler zu gestalten: Neuverschuldung, die für öffentliche Investitionen genutzt wird, sollte von beiden Schuldenregeln ausgenommen werden. Damit würde die Kreditaufnahme für Zukunftsinvestitionen ermöglicht. Zudem würden Schuldenbremse und Fiskalpakt weniger als Hebel für Privatisierungen wirken.

Ziel muss es sein, Deutschland dauerhaft auf einen höheren Investitions- und Ausgabenpfad zurückzubringen. Notwendig ist eine langfristige Strategie, die dauerhaft die Finanzierung wichtiger Maßnahmen gewährleistet. Es ist deshalb auch in diesen konjunkturell guten Zeiten notwendig, die schwarze Null zu überdenken. Und es ist notwendig, alles zu unterlassen, was später in konjunkturell schlechteren Zeiten die Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte zusätzlich verschärft. Gerade die von Schwarz-Rot geplanten Steuer- und Abgabensenkungen sind vor diesem Hintergrund schädlich.


Bei dem Text handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung der Wirtschaftspolitischen Informationen 2/2018 von ver.di. Der Originaltext – einschließlich mehrerer Schaubilder – findet sich ▸hier (PDF).


Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft ver.di.

Ralf Krämer arbeitet im Bereich Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft ver.di.

Patrick Schreiner ist Gewerkschafter und Publizist aus Bielefeld/Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Wirtschaftspolitik, Verteilung, Neoliberalismus und Politische Theorie.