Die EU-Handelsabkommen mit Japan, Singapur und Vietnam gehen den mit CETA eingeschlagenen Weg der Entmachtung der Parlamente durch „Ausschüsse“ konsequent weiter. Das schreibt das Online-Portal „Telepolis“.
Von Thomas Köller und Walter Gröh
Sie meinen, über CETA & Co. schon alles zu wissen, und die Sache sei doch sowieso schon gegessen? Beides könnte ein großer Irrtum sein.
Zur Erinnerung: Ab 2013/2014 tobte bis Ende 2016 in ganz Europa eine harte Auseinandersetzung zuerst um TTIP und dann um CETA, beides sogenannte Freihandelsverträge „der neuen Generation“, weil es in ihnen um weit mehr als bloß die Senkung von Warenzöllen gehen sollte. Sowohl mit den USA (TTIP) wie mit Kanada (CETA) wollte die EU weitreichende Liberalisierungen auch der öffentlichen Dienstleistungen, eine Paralleljustiz für Investoren (private Investitionsschiedsgerichte) und vieles mehr vereinbaren, was den KritikerInnen jedoch vor allem auf eins hinauszulaufen schien: eine weitreichende Einschränkung und Aushebelung der Demokratie. Nämlich überall dort, wo es darum geht, den Bereich der Wirtschaft im weitesten Sinn durch demokratisch beschlossene Gesetze zu regeln.
Ausschüsse entmachten Parlamente
Schon bei TTIP und CETA also war dieser Demokratieabbau der eigentlicher Kern des Streits, gemeinsamer Nenner all der kritisierten Einzelaspekte. Ausgerechnet die Verlagerung wesentlicher zukünftiger Entscheidungen in neu geschaffene, rein exekutive Gremien ist dabei jedoch teilweise unterbelichtet geblieben.
Zwar wurde immer wieder kritisiert, dass ExekutivvertreterInnen der jeweiligen Vertragsparteien – bei CETA also der EU und Kanadas – neue Gesetzesvorhaben frühzeitig abstimmen sollen. Und diese „Regulatorische Kooperation“ oder „Regulierungszusammenarbeit“ im Sinne von CETA-Kapitel 21 (und eines entsprechenden Kapitels im seinerzeit geplanten TTIP) ist auch sicher schlimm genug, da sie an den Parlamenten vorbei und zugleich unter Mitwirkung von Industrievertretern stattfindet. Zugleich aber ist sie auch eine Nebelkerze, da sie formal freiwillig bleibt (Art. 21.2 Abs. 6 CETA), dieselben Verträge, auch CETA, zugleich aber ein viel umfassenderes System von „Ausschüssen“ installieren, welche ihrerseits knallhart anstelle der Parlamente entscheiden bzw. diesen Vorgaben machen können.
Widerstand und Hoffen auf Karlsruhe
Obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits im Oktober 2016, im Rahmen seiner Entscheidung über die Anträge auf einstweilige Anordnung gegen CETA, deutlich gemacht, dass es gerade diese „Ausschüsse“ sehr gewissenhaft auf ihre Verträglichkeit mit dem Grundgesetz prüfen werde, ist diese Problematik von der Öffentlichkeit fast nicht beachtet worden. Dabei geht es um nicht weniger als die Frage, ob wir fortan noch in einer (parlamentarischen) Demokratie leben, das heißt, ob die staatliche Gewalt, der wir als Bürgerinnen und Bürger unterworfen sind, letztlich von uns selbst ausgeht, also wenigstens indirekt auf eine Entscheidung des von uns gewählten Parlaments zurückgeführt werden kann.
Das mag ein sehr formales Kriterium für Demokratie sein und man kann sicher die Frage stellen, ob es wirklich ausreiche, eine Partei, die ihre Wahlversprechen in der Regierungsverantwortung gebrochen hat, beim nächsten Mal abwählen zu können. In jedem Fall aber ist es die Mindestforderung, die vom Grundgesetz nicht nur aufgestellt (Art. 20 Abs. 2), sondern auch mit Ewigkeitsgarantie versehen wird (Art. 79 Abs. 3). Und auch wenn die real existierende EU aus verschiedenen Gründen sicher keine lupenreine (parlamentarische) Demokratie im Sinne des Grundgesetzes ist und dies niemand befriedigen sollte, ist angesichts der starken Stellung des Rates, also der nationalen Regierungen, doch immerhin noch eine sehr indirekte, sehr formale Rückführbarkeit auf Parlamentsentscheidungen gegeben.
Hinzu kommt: Selbst wenn man dem Bundesverfassungsgericht zutraut, im Rahmen seiner noch ausstehenden Entscheidung im CETA-Hauptsacheverfahren die Notbremse, falls nötig, zu ziehen, kommen in der Zwischenzeit doch ständig neue Abkommen hinzu. Was nützt es also, wenn die CETA-Abstimmung im Bundestag und Bundesrat nicht vor dem CETA-Urteil erfolgt, derweil aber andere Abkommen mit denselben oder sogar noch weiter gehenden Bestimmungen zu jenen „Ausschüssen“ ratifiziert werden?
Jedenfalls ist genau das letzten Winter im Hinblick auf den EU-Handelsvertrag mit Japan (JEFTA) geschehen und geschieht dasselbe im Moment im Hinblick auf die entsprechenden Verträge mit Singapur (EUSFTA) und Vietnam (EUVFTA) sowie mit der Staatengruppe MERCOSUR (wovon trotz verkündeter Einigung aber noch kein vollständiger Text vorliegt).
Doch immerhin: Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wurden auch gegen JEFTA und EUSFTA wieder Verfassungsbeschwerden eingereicht, die sich gegen diese Suspendierung der parlamentarischen Demokratie in den von den Ausschüssen geregelten Bereichen wenden. Für die erste EUSFTA-Beschwerde haben sich, unterstützt von über 13.000 BürgerInnen, die Nichtregierungsorganisationen mehr demokratie e. V., foodwatch e. V. und campact e. V. zusammengetan, die zweite geht auf die Initiative Marianne Grimmensteins zurück, die auch 2016 bereits die erste der insgesamt dann sechs CETA-Verfassungsklagen auf den Weg gebracht hatte und von der auch die einzige JEFTA-Klage angestrengt wird.
Die beiden neuen Klagen weisen zunächst darauf hin, dass die Entscheidungen jener Ausschüsse nicht nur völkerrechtlich verbindlich sind – eben aufgrund der Bestimmungen in EUSFTA (Art. 16.4 Abs. 1; entsprechend Art. 26.3 Abs. 2 in CETA, Art. 22.2 Abs. 1 in JEFTA und Art. 17.4 in EUVFTA). Gemäß des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV; dort Artikel 216 Absatz 2) bilden sie vielmehr auch sofort verbindliches EU-Recht. Weigerte sich also etwa der Bundestag, einen Beschluss der EUSFTA-Ausschüsse umzusetzen, wäre nicht nur eine Klage Singapurs vor dem EU-Singapur-EUSFTA-Schiedsgericht möglich, sondern könnte auch die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland vor dem EuGH anstrengen.
Blankochecks für Vertragsänderungen und Handelsliberalisierungen
Das wäre vielleicht alles nicht so schlimm, wenn die Kompetenzen der Ausschüsse inhaltlich eng begrenzt wären. Doch tatsächlich reichen sie sehr weit. Nicht zuletzt kann der koordinierende Ausschuss, der bei CETA und JEFTA „Gemischter Ausschuss“ und bei EUSFTA und EUVFTA „Handelsausschuss“ heißt, jeweils den gesamten Vertrag auslegen; und EUSFTA (Art. 16.1 Abs. 4 d), JEFTA (Art. 22.1 Abs. 5 e) und EUVFTA (Art. 17.1 Abs. 4 d) sehen sogar vor, dass diese Auslegungen keineswegs nur für die im Rahmen des jeweiligen Vertrags vereinbarten Schiedsgremien, sondern auch für die Vertragsparteien verbindlich sind. Allein damit können praktisch beliebige Vertragsänderungen oder -erweiterungen ins Werk gesetzt werden – jedenfalls sofern es im allerweitesten Sinn um Handel bzw. dessen Liberalisierung geht.
Zumindest bei EUSFTA können die Liberalisierungsverpflichtungen außerdem bereits dadurch beliebig weit bzw. willkürlich gefasst werden, dass eben die Verpflichtungen zum Abbau von Warenzöllen (Anhang 2-A) und zur Liberalisierung von Dienstleistungen (Anhänge 8-A, 8-B) ausdrücklich durch Ausschussentscheidungen geändert werden können. Ob also zum Beispiel die Wasserversorgung, die in CETA weitgehend geschützt war, nun privatisiert wird, liegt zukünftig in der Entscheidungsgewalt eines EUSFTA- (oder auch JEFTA-) Ausschusses.
Hinzu kommen weitere Blankochecks für Vertragsänderungen wie die, „jede … erforderliche Durchführungsmaßnahme“ (Art. 4.12 Abs. 1 EUSFTA) in Bezug auf ein einzelnes Kapitel zu beschließen oder in bestimmten Bereichen allgemeine Regeln zu alles anderen als rein „technischen“, sondern sehr grundsätzlichen Fragen zu erlassen, wie etwa zur Subventions- bzw. Wettbewerbspolitik (Art. 11.8 Abs. 2 EUSFTA).
Bei all dem haben die gewählten Parlamente überhaupt keine Mitsprache und selbst unsere Regierungen nur eine sehr unzureichende: Außer bei CETA für sehr wenige Bereiche sind die EU-Mitgliedstaaten keine „Vertragsparteien“ und damit nicht in den Ausschüssen vertreten. Ihre einzige Rolle besteht dann darin, im EU-Rat jedes Mal den „Gemeinsamen Standpunkt“ zu formulieren, den die Kommissionsvertreter in den Ausschüssen zu vertreten haben (Art. 218 Abs. 9 AEUV). Doch zum einen gilt für die Abstimmung im Rat kein Einstimmigkeitsprinzip, so dass etwa Deutschland überstimmt werden könnte; und zum anderen gibt es keine Garantie dafür, dass die Ausschüsse nicht einfach etwas ganz anderes entscheiden oder der vom Rat formulierte Gemeinsame Standpunkt ohnehin nur ein Blankocheck ist.
Am Ende also wird die Ausschussarbeit praktisch bedeuten: Der/die EU-HandelskommissarIn kungelt mit dem Handels- und Industrieminister Singapurs (bzw. Kanadas bzw. Japans bzw. Vietnams) etwas aus, und zwar auf sehr intransparente Weise, denn selbst EU-Mitgliedstaaten erhalten nur Zusammenfassungen der eigentlichen Protokolle, aus denen nicht ersichtlich ist, wie die Kommissionsvertreter wirklich verhandeln. Auch bleiben die Lobbyisten unbekannt und dasselbe gilt in vielen Fällen sogar für die Ausschussbeschlüsse selbst.
Alles in allem: Obwohl das Grundgesetz selbst nicht geändert wird, werden die BürgerInnen der Bundesrepublik durch die EU-Handelsverträge künftig einer staatlichen Exekutivgewalt unterworfen, die nicht mehr „vom Volke aus(geht)“ (GG Art. 20 Abs. 2 Satz 1). Die Legitimationskette vom Wahlakt zur staatlichen Gewaltausübung ist – selbst bei Zugrundelegung extrem formaler Kriterien – lückenhaft. Die parlamentarische Demokratie wird damit in den von den Ausschüssen geregelten Bereichen abgeschafft.