„Kontext“: Das Schweigen der Klemmer

Die jüngste Ausgabe der Wochenzeitung Kontext analysiert die Haltung der neuen baden-württembergischen Regierung zu den Freihandelsabkommen TTIP und CETA.

Von Jürgen Lessat

TTIP und CETA – und was sagen Kretschmann & Co. dazu? Sie träumen weiter von transparenten und fairen Verträgen mit den USA. Keiner der Regierungspartner traut sich, das Freihandelsabkommen infrage zu stellen.

Manchmal werden selbst präsidiale Worte zu Schall und Rauch. Eine Erfahrung, die auch dem stets staatsmännisch auftretenden grünen Ministerpräsidenten aus Stuttgart nicht erspart bleibt. Im Januar noch stellte sich Winfried Kretschmann auf den Radolfzeller Naturschutztagen hinter das geplante transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP. Es sei aberwitzig, wenn Baden-Württemberg als eine weltweit bedeutsame und vom Export abhängige Industrieregion ein Freihandelsabkommen mit den USA grundsätzlich ablehne. Statt Hasenfüßigkeit empfahl er Europa ein offensives Vorgehen bei der Ausgestaltung des Vertragswerks. „Ich weiß gar nicht, warum wir da Angst haben müssen: Die USA ist kein großer Bruder von uns. Wie verhandeln mit denen auf Augenhöhe …“, zitiert der Deutschlandfunk den Ministerpräsidenten.

Doch das sagte Kretschmann offenbar, ohne genau zu wissen, worüber er sprach.

Vier Monate und einen Wahlsieg später veröffentlichte Greenpeace Niederlande Anfang Mai die aktuellen geheimen TTIP-Verhandlungsprotokolle. Aus Sicht der Umweltschutz-Organisation bestätigen die Papiere die schlimmsten Befürchtungen der TTIP-Kritiker. Auf 248 Seiten lasse sich nachlesen, wie die USA die Europäer unter Druck setzen. So soll die europäische Autoindustrie ihre Fahrzeuge nur ungehindert in die USA exportieren dürfen, wenn die Amerikaner im Gegenzug mehr landwirtschaftliches Erzeugnisse nach Europa liefern dürfen, darunter auch umstrittene Genprodukte.

Auch seien trotz gegenteiliger Beteuerung hiesiger TTIP-Protagonisten europäische Schutzstandards gefährdet: durch die sogenannte regulatorische Kooperation, die auch rückwirkend eine Aufhebung von Standards und Gesetzen ermöglicht, wenn diese den Handel behindern. So offenbarten die Unterlagen, dass die Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel oder das EU-Chemikalienrecht REACH den Amerikanern ein Dorn im Auge ist. Die USA wollen, dass Stoffe nur dann verboten werden können, wenn vorher ihre Schädlichkeit belegt ist. REACH hingeben basiert auf dem Vorsorgeprinzip: Seit 2007 müssen alle Chemikalien in der EU registriert werden; ihre Unschädlichkeit muss nachgewiesen sein. Mehrere Tausend Chemikalien wurden nicht zugelassen, da eine schädliche Wirkung nicht auszuschließen ist. „Dieses Prinzip sieht die USA als Handelshemmnis“, so Greenpeace.

In diesem Bereich kollidieren die US-Vorstellungen beispielhaft mit einem Eckpunktepapier vom März 2015, mit dem sich die bisherige grün-roten Regierungskoalition in Stuttgart zum umstrittenen TTIP-Abkommen positionierte. „Die Sicherung des Vorsorgeprinzips insbesondere im Verbraucherschutz- und Umweltbereich ist zwingend geboten. Die parlamentarische Hoheit über die Definition von Standards und Zulassungsverfahren muss dabei sichergestellt bleiben“, heißt es darin. Doch das ist nicht der einzige Punkt, an dem Wunsch und Wirklichkeit auseinanderlaufen. Weitere der insgesamt 15 Eckpunkte des Landes spiegeln sich nicht im momentanen Stand der TTIP-Verhandlungen wieder. Aus Stuttgarter Sicht garantieren etwa die nationalen Justizsysteme dies- und jenseits des Atlantiks einen anspruchsvollen Investitionsschutz, sodass es weder der umstrittenen Schiedsgerichte noch gesonderter Handelsgerichtshöfe bedarf.

Grün-rotes Eckpunktepapier gilt auch für Grün-Schwarz

Auch für die neue baden-württembergische Landesregierung ist TTIP ein Thema. Vorstellungen über faire und transparente Handelsabkommen fixierten die grünen Wahlsieger mit dem Juniorpartner CDU im Koalitionsvertrag, der allerdings vor der Veröffentlichung der geheimen TTIP-Protokolle aufgesetzt wurde. In internationalen Handelsvereinbarungen lägen aus Landessicht Chancen, aber auch Risiken, schrieben die Koalitionäre darin. Die Zustimmung zu jeder Vereinbarung werde man von der Einhaltung der für die EU vereinbarten Standards beim Verbraucher-, Umwelt- und Datenschutz sowie bei Gesundheitsversorgung, kommunaler Daseinsvorsorge, Kultur, Bildung und öffentlicher Gerichtsbarkeit bei Investor-Staats-Klagen abhängig machen.

Die alte Landesregierung vererbte zudem ihr Eckpunktepapier der neuen Regierungskoalition: Es soll die Basis für die Bewertung der Abkommen auch durch Grün-Schwarz sein. Daneben werde man den von Grün-Rot ins Leben gerufenen TTIP-Beirat fortsetzen. Um nicht nur den Dialog zwischen Politik und gesellschaftlichen Gruppen zu intensivieren, sondern auch „auf die Verhandlungen in Brüssel mittelbar Einfluss nehmen zu können.“ Die öffentlich gemachten Verhandlungsprotokolle zwischen EU und USA deuten an, dass die hehren Stuttgarter Absichten bislang nicht mehr als fromme Wünsche waren.

Auf Kontext-Nachfrage, ob durch das TTIP-Leak die entsprechenden Passagen im Koalitionsvertrag längst überholt sind, zieren sich beide Regierungspartner. „Bitte sehen Sie uns nach, dass sich die Landesregierung in der Übergangszeit nicht mit Details der neuen Entwicklungen auseinandergesetzt hat“, verweigert Kretschmanns Staatsministerium konkrete Antworten. Auch der stellvertretende Ministerpräsident in spe, CDU-Landeschef Thomas Strobl, will nicht mehr sagen, als schon im Kiwi-Manifest steht. „Die CDU sieht in Abkommen wie TTIP und CETA große Chancen, klar sind aber auch unsere damit verbundenen Erwartungen respektive Forderungen“, verweist CDU-Sprecher Andreas Mair am Tinkhof darauf, dass Freihandelsabkommen die hohen Standards im Umweltschutz, im Sozialbereich und bei der Lebensmittelsicherheit nicht gefährden dürfen.

Während die Stuttgarter Führungsköpfe sich noch im beredten Schweigen üben, beziehen andere in deren jeweiligen Parteien eindeutiger Stellung. Die von Greenpeace veröffentlichten Abschriften zeigten, dass die bisherige Kritik und die Befürchtungen der Öffentlichkeit absolut gerechtfertigt seien, betonen die Grünen im Bundestag. „Diese Verhandlungen müssen gestoppt werden, um dann mit einem besseren Mandat neu zu starten“, forderte die Grünen-Bundesvorsitzende Simone Peter. „Das TTIP-Leak zeigt: Nicht die Kritiker haben Gefahren übertrieben, sondern die Befürworter haben sie verharmlost“, twitterte Sven Giegold, Sprecher der Grünen im Europaparlament.

So ähnlich klang es auch mal in Kretschmanns Revier: In ihrem Wahlprogramm zur Landtagswahl hatten auch die baden-württembergischen Grünen faire Regeln für internationalen Handel gefordert und für einen Neustart der TTIP-Verhandlungen plädiert. Das bereits fertig ausgehandelte Freihandelsabkommen CETA mit Kanada lehnten die hiesigen Grünen auf der Landesdelegiertenversammlung im November 2014 sogar gänzlich ab. „Insbesondere das Thema Schiedsgerichte sehen wir sehr kritisch“, hieß es zu CETA auch im Wahlprogramm 2016. Die Bundesregierung müsse mit Kanada zwingend nachverhandeln, weil Privilegien für internationale Investoren nach wie vor vorgesehen seien und damit US-Unternehmen die Möglichkeit erhalten würden, mittels kanadischer Tochterfirmen Schiedsgerichtsverfahren gegen EU-Staaten durchzuführen.

Beim Grünen-Parteitag am vergangenen Samstag in Leinfelden-Echterdingen, auf dem der grün-schwarze Koalitionsvertrag abgesegnet wurde, erinnerten mehrere Dutzend Bürger die Delegierten an die CETA-Ablehnung. Sie übergaben Ministerpräsident Kretschmann ein Plakat mit der Aufschrift „Wort halten“. „Kretschmann wirbt mit Verlässlichkeit: Dann muss er auch halten, was die Grünen vor der Wahl versprochen haben – und CETA im Bundesrat die Zustimmung verweigern“, forderte Christoph Bautz von der Bürgerbewegung Campact, die zu der Aktion aufgerufen hatte. Laut Bautz verweigerte Kretschmann jegliche Aussage, wie die grün-schwarze Regierung zu einer CETA-Ratifikation steht.

Von christdemokratischer Seite kommen dagegen nach dem TTIP-Leak vor allem Durchhalteparolen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält eisern am transatlantischen Abkommen fest: Geht es nach der Bundesregierung, sollten die Verhandlungen zwischen Brüssel und Washington „so zügig wie möglich“ abgeschlossen werden. Der CDU-Bundesvize Armin Laschet betonte, wie wichtig Verbraucherstandards für Europa seien. Zugleich mahnt er: „Wir sollten uns abgewöhnen, so zu tun, als wären unsere Standards so viel besser.“ Die Abgas-Affäre und FIFA-Machenschaften seien wesentlich von den USA aufgedeckt worden. Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Michael Fuchs, forderte sogar rechtliche Konsequenzen für den Geheimnisverrat. „Gegen Rechtsverstöße von Greenpeace bei der laufenden Aktion muss sich der Rechtsstaat mit allen Mitteln wehren“, sagte er der „Bild“-Zeitung. Die Aktion zeige die „Verlogenheit der Empörungsdebatte zu TTIP“, kritisierte Fuchs. Die Umweltorganisation sei selbst „völlig intransparent“.

Und wie steht die Bevölkerung zu TTIP? Der TTIP-Leak hat die ohnehin große Ablehnung gegen das Handelsabkommen noch einmal verstärkt: Laut einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend Anfang Mai sind 70 Prozent der Befragten der Meinung, dass ein solches Abkommen eher Nachteile für Deutschland bringe. 79 Prozent fürchten, dass durch das Freihandelsabkommen der Verbraucherschutz geschwächt wird. Ein deutliches Votum, auf das die Politik des Gehörtwerdens im Land bislang schweigt.