Ungleichheit tötet: Wie Corona den Globalen Süden trifft

Inzwischen gilt auch für die 1,3 Milliarden InderInnen eine Ausgangssperre. Foto: pw

Das, was wir in Zeiten von Corona durchmachen, ist nichts im Vergleich zu dem, was auf die arme Bevölkerung in den Ländern des Südens noch zukommt. Welche Auswirkungen die Katastrophe beispielsweise für Lateinamerika hat, beschreibt Stefan Peters, Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen, in einem Beitrag der Debattenplattform Internationale Politik und Gesellschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

In weiten Teilen der Welt ist das öffentliche Leben längst zum Erliegen gekommen, Ausgangssperren prägen den Alltag. Weitere Empfehlungen zur Eindämmung der Corona-Epidemie umfassen die Einhaltung strikter Hygienevorschriften, die Meidung des öffentlichen Nahverkehrs, Arbeit im Home Office beziehungsweise den Verzicht auf die Pflege von Sozialkontakten. Alle diese Maßnahmen sind richtig. Sie haben jedoch eine zentrale Leerstelle: Sie abstrahieren von den Lebensbedingungen des Großteils der Weltbevölkerung. Mit Blick auf den Globalen Süden wird die Mehrzahl der Todesopfer nicht direkt dem Corona-Virus, sondern indirekt den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen zum Opfer fallen. Um dies zu verhindern, sind schnell mutige Entscheidungen zur wirtschaftlichen und sozialen Abfederung der Krise notwendig. 

Die Weltwirtschaft befindet sich in der Corona-Schockstarre. Die Produktion liegt am Boden. Die Gründe hierfür finden sich einerseits in den Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Andererseits streut die Unterbrechung von Lieferketten in der globalen Wirtschaft zusätzlichen Sand ins Getriebe. Corona wirkt praktisch wie ein Generalstreik ohne Verhandlungstisch. Zudem bricht in vielen Bereichen die Nachfrage ein. Die Menschen bleiben zu Hause und üben sich in Konsumverzicht. Dieser erzwungene Wandel zu einem post-materiellen Lebensstil hat einen Namen: „Degrowth by desaster“ (Peter Victor). 

Die Weltwirtschaft wird im Jahr 2020 in eine tiefe Rezession fallen. Wir müssen uns auf ein zweistelliges Negativwachstum einstellen. Dennoch gilt: Die Krise läuft für die Wirtschaft im Globalen Norden allenfalls auf eine schwere Grippe heraus. Die Hauptlast des wirtschaftlichen Abschwungs wird auf den Ländern des Globalen Südens liegen. Der drastische Rückgang der Rohstoffpreise und des Tourismus sowie der Rückgang der Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten lässt bereits jetzt die Staats- und Deviseneinnahmen eines Großteils dieser Staaten einbrechen. 

Die Versorgungslage kann sich schnell anspannen, Handelsbilanzdefizite und Schulden wachsen. Vor allem aber schießen die Preise für Konsumgüter und Lebensmittel in die Höhe. Das verschärft die soziale Krise.

Gleichzeitig haben viele der Länder des Globalen Südens im Zuge der Weltmarktöffnung ihre Kapazitäten zur Eigenversorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern verloren und sind abhängig von Importen. Doch aktuell befindet sich der Welthandel auf Sparflamme und zudem haben die meisten Währungen des Globalen Südens in den vergangenen Wochen gegenüber dem Euro und dem Dollar massiv an Wert verloren. Als Konsequenz kann sich die Versorgungslage schnell anspannen oder die Handelsbilanzdefizite und Schulden wachsen. Vor allem aber schießen die Preise für Konsumgüter und Lebensmittel in die Höhe. Dies sorgt für eine weitere Verschärfung der sozialen Krise.

Die Corona-Berichterstattung fokussiert sich naheliegenderweise auf die gesundheitlichen Konsequenzen des neuartigen Virus. Dabei wird eine zentrale Einsicht oft vergessen: Gesundheit wirkt – ebenso wie Smog oder der Klimawandel – sozial nicht neutral. Dies gilt insbesondere für Staaten in Lateinamerika, die durch extreme soziale Ungleichheiten sowie segregierte Gesundheitssysteme geprägt sind. Die Region weist zusammen mit dem südlichen Afrika die weltweit höchsten Ungleichheitswerte auf. Dies wirkt sich ganz konkret auf den Gesundheitszustand aus. 

Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind überdurchschnittlich häufig von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen und damit in der aktuellen Corona-Krise einem höheren Risiko ausgesetzt. Zudem ist ihr Zugang zum Gesundheitssystem ohnehin ungenügend und wird sich im Zuge der Ausbreitung des Corona-Virus noch weiter verschlechtern. Denn die Pandemie stellt die bestenfalls wackeligen und prekären Gesundheitssysteme in Lateinamerika unter einen immensen Stresstest. 

Die allseits eingeforderten Präventionsmaßnahmen sind für viele Menschen realitätsfern, denn sie haben einen Mittelschichtsbias [orientieren sich an der Mittelschicht].

Dabei gilt es zu beachten, dass die Gesundheitsversorgung – entgegen häufigen Vorurteilen – in vielen Ländern der Region nicht per se schlecht ist. Im Gegenteil: Es handelt sich vielmehr um eine Zwei-Klassen-Medizin. Gut ausgestattete Privatkliniken in den wohlhabenden Vierteln der Metropolen stehen dem schlechten Zustand vieler öffentlicher Krankenhäuser und einem eklatanten Mangel an adäquater Gesundheitsversorgung auf dem Land gegenüber. Bei einem schweren Krankheitsverlauf entscheiden hier weniger das Alter oder die Vorerkrankungen, sondern das Bankkonto und der Wohnort über Leben und Tod.

Zudem sind die allseits eingeforderten Präventionsmaßnahmen nicht nur in Lateinamerika für viele Menschen realitätsfern beziehungsweise haben einen Mittelschichtsbias. Laut den Vereinten Nationen hat etwa ein Viertel der Weltbevölkerung nur eingeschränkten Zugang zu sauberem Wasser. Die Einhaltung der Hygieniestandards scheitert hier an den Lebensbedingungen. Auch die Unannehmlichkeiten von Ausgangsperren dürften in weitläufigen Apartments mit Terrasse verschmerzbarer sein als in kleinen und oft von Armut geprägten Unterkünften in den städtischen Marginalvierteln. 

In Lateinamerika sind knapp 50 Prozent der Beschäftigten im informellen Sektor tätig und weitere sind prekär beschäftigt. Es handelt sich um Menschen, die weder nennenswerte Rücklagen noch eine soziale Absicherung haben. Diese Menschen können sich einen Luxus wie den Verzicht auf den öffentlichen Nahverkehr, die Umstellung auf Home Office oder eine Selbstisolierung kaum leisten. 

Für die kommenden Monate ist mit massiven politischen Unruhen, Instabilität und Plünderungen zu rechnen. Corona wird zu einem Problem der öffentlichen Ordnung. 

Die Schließung von Schulen zieht nicht nur ein Betreuungsproblem nach sich. Gerade in der armen Bevölkerung ist oft die kostenlose Schulspeisung der Kinder ein fundamentaler Beitrag zur Sicherstellung der Ernährung. Steigende Preise für Lebensmittel in Folge des Absturzes der Landeswährungen und von Hamsterkäufen lassen weitere Einschnitte befürchten. Soziale Abfederungsmechanismen sind jedoch kaum oder gar nicht vorhanden und scheinen bisher keine politische Priorität zu besitzen. 

Als Folge der Corona-Krise werden Armut und extreme Armut in die Höhe schnellen. Die soziale Frage hat schon vor der aktuellen Krise in vielen Ländern Lateinamerikas zu massiven sozialen Protesten geführt, die von den Regierungen mit unterschiedlicher Intensität niedergeschlagen wurden. Für die kommenden Monate ist nicht nur mit einer Zuspitzung der Situation, sondern auch mit massiven politischen Unruhen, Instabilität und Plünderungen zu rechnen. Corona wird zu einem Problem der öffentlichen Ordnung und kann Chaos säen. Es steht zu befürchten, dass die Politik eine Antwort nicht etwa in einer sozialen Bearbeitung der Krise, sondern mittels schlichter Repression suchen wird und mit Verweis auf die Bekämpfung von Corona rechtsstaatliche Standards geopfert werden.

Eine flächendeckende soziale Grundsicherung gibt es nicht zum Nulltarif. Es braucht zusätzliche Mittel zur Abfederung der sozialen Krise. Diese müssen in einen Sonderfonds zur Sicherstellung der sozialen Grundsicherung fließen. Hieraus können dann schnelle und gezielte Direkthilfen für die millionenfachen Härtefälle finanziert werden. Mittel- und langfristig braucht es zur Krisenprävention hingegen die Förderung von guter Arbeit und sozialen Rechten sowie eine Neuausrichtung des Entwicklungsmodells. 

Auf dem ersten Blick fehlen den lateinamerikanischen Staaten hierfür die Mittel. Doch Spielräume sind vorhanden. Erstens gibt es Raum für Haushaltsumschichtungen. Laut aktuellem Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) stiegen die Rüstungsausgaben in der Region in der jüngsten Vergangenheit deutlich an. Das Corona-Virus wird aber kaum mit U-Booten oder Kampfhubschraubern besiegt. Gelder für Waffenkäufe müssen dringend eingefroren und für die Finanzierung der Gesundheits- und Sozialsysteme genutzt werden. 

Zweitens leisten sich die lateinamerikanischen Staaten seit jeher den Luxus, auf eine effektive Besteuerung der Wohlhabenden weitgehend zu verzichten. In der Corona-Krise müssen die lateinamerikanischen Eliten in die gesellschaftliche Pflicht genommen werden. Eine Überwindung der Pandemie erfordert gesamtgesellschaftliche Lösungsansätze mit großkalibrigen Maßnahmen zur Eindämmung der Krise und Prävention einer gesundheitlichen und sozialen Katastrophe. Der Königsweg liegt hier in der Einführung einer effektiven Besteuerung hoher Einkommen. Dies muss kurzfristig von einer einmaligen Vermögensabgabe begleitet werden.

Wer eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe sowie massive politische Instabilität vermeiden möchte, muss jetzt mehr denn je auf internationale Kooperation und eine soziale Weltinnenpolitik setzen.

Die Abfederung der sozialen Folgen der Pandemie wird – drittens – nicht allein auf nationaler Ebene möglich sein. Genauso wie das Virus nationale Grenzen spielend überschreitet, erfordern auch die Gegenmaßnahmen internationale Koordination. Wer eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe sowie massive politische Instabilität vermeiden möchte, muss jetzt mehr denn je auf internationale Kooperation und eine soziale Weltinnenpolitik setzen. Diese Einsicht ist gleichwohl bei den Staats- und Regierungschefs noch nicht angekommen. 

Nationale Alleingänge prägen das Bild und belasten schon jetzt die Post-Corona-Zeit mit der Hypothek eines diplomatischen Scherbenhaufens. Dabei ist heute mehr denn je internationale Zusammenarbeit und Solidarität erforderlich. Dies erfordert großzügige Unterstützung für Krisenstaaten. In diesem Licht erweist sich die Verweigerung finanzieller Hilfen des IWF für Venezuela als handfester Skandal, der die – vollkommen richtige – Anklage von Menschenrechtsverletzungen in dem Land als Krokodilstränen entlarvt. Der Fokus liegt weiter auf Regime Change, und dafür werden leichtfertig Menschenleben geopfert. 

Dabei ist es gerade die internationale Gemeinschaft, die in dieser Krise das Heft des Handels in die Hand nehmen und mit schnellen, unbürokratischen und weitreichenden Entscheidungen die notwendigen Mittel zur Abfederung der sozialen Konsequenzen der Corona-Pandemie zur Verfügung stellen könnte. Ein internationaler Notfonds unter Einbindung von IWF und Weltbank könnte in der aktuellen globalen Corona-Krise ein Fanal für eine Neugestaltung der internationalen Politik sein. 

Sollte die internationale Gemeinschaft die endlosen Bekenntnisse zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals) ernst meinen, müssen jetzt mutige Entscheidungen getroffen und breit ausfinanziert werden. Andernfalls sind die Ziele für 2030 bereits Ende 2020 Makulatur. Es muss jetzt rasch und entschlossen gehandelt werden.